Zum
erträglichen Elend der Philosophie
Michail
Bachtins literarische "Philosophie der Handlung"
Die
neue Leichtfertigkeit des Handelns
Vielleicht
hat André Gide in „Die Verliese des Vatikans“ (1914) den „acte
gratuit“ erfunden. Eine spontane Tat, gerne gewalttätig, die das
rational gesteuerte Vorgehen
des aufgeklärten Zeitgenossen verhöhnt. In dem von Gide autorisierten
Fall stößt Lafcadio einen Mitreisenden, den er nie zuvor gesehen hat,
mit tödlichen Folgen aus dem fahrenden Zug. Die Surrealisten hatten ihre
wahre Freude an diesem Motiv, passte es doch zum Traumschema assoziativ
verkoppelter Handlungen und zugleich zur Wunderkiste der Bürgerschreck-Attitüden.
Ein Amokläufer hat wenigsten noch ein dunkles, wenn auch schwer zu
prognostizierendes Motiv seiner radikalen Handlung. Aber ein Akteur, der
handelt, ohne überhaupt noch Wert auf das Motiv zu legen, warum er das
tut, ist eine psychologische Konstruktion, die unheimlich bis unmöglich
anmutet. Ist diese Handlungsfigur nicht selbst eine Provokation oder
weitergehend eine Denkunmöglichkeit? Zumindest trifft der „acte gratuit“
eine Schwäche unseres tradierten Handlungsmodells: Ständig handeln wir,
ohne zu wissen, warum das geschieht. Unsere Entscheidungen sind neueren
neuropsychologischen Erkenntnissen nach ohnehin schon getroffen, während
wir glauben, unseren „freien Willen“ in Gang setzen. Unser eigenes
Handeln widerfährt uns oft genug wie das Schicksal selbst. In der
Rekonstruktion des Handelns mögen post festum rationale und weniger
rationale Momente aufscheinen. Doch die Sicherheit eines geplanten
menschlichen Handelns, das nach vernünftiger Motivwahl und
„buchhalterischer“ Planung eine Handlung ausführt, hat mit den realen
psychischen Abläufen wenig zu tun. Die Helden des „acte gratuit“, die
gerne auch mal in „Wansthöhe“ blind in die Menge schießen, wie es
André Breton im zweiten surrealistischen Manifest dekretierte, sind zudem
psychoanalytisch transparente Figuren nicht weniger als fiktive Charaktere
im umfassendsten Sinne des Wortes. Denn Sigmund Freud hätte all den
unheimlichen Figuren, angefangen mit Maldoror und den anderen Ungeheuern
des fin de siècle nachgewiesen,
aus welchen ödipalen Wutkellern sie entsprungen sind.
Kurz
nachdem Lafcadio sich als Todesfalle für den Mitreisenden entpuppte,
begann Michail M. Bachtin über die „Philosophie der Handlung“ zu
meditieren. Bachtin war Mitte Zwanzig und arbeitete sich am
Neukantianismus Hermann Cohens, der Phänomenologie Edmund Husserls und
der Lebensphilosophie ab. Zugleich begann die Zeit der großen (Ver)Führer,
die geplant oder intuitiv - nach Gustave le Bons einschlägigen Rezepten -
Massen agitierten und sich in ihren öffentlichen Auftritten als „Männer
der Tat“ inszenierten. Was beschreibt – für den Klappentext
formuliert – Bachtins Handlungsphilosophie? Das ganze Leben in seiner
Einzigartigkeit, Gedanken, Erlebnisse, Handlungen im engeren Sinne, formen
sich zu einer komplexen Handlung. Erst die konkrete Geschichtlichkeit des
je eigenen Handelns beantwortet die Frage, wie ich verantwortlich handele.
Das theoretische Urteil ist für diese individuelle Tätigkeit nicht
durchdringbar und daher als ethischer Grund menschlichen Handelns nicht
ausreichend. Unschwer lässt sich hier das treibende Motiv der
Poetiktheorie Harold Blooms wiederfinden, der jedem Dichter die Urangst
attestiert, nur eine Kopie zu sein, verwechselbar mit einem Größeren zu
sein. Von hier aus wird die „Kontingenz des Selbst“ (Richard Rorty) für
den Dichter zu einer existenziellen Angelegenheit. Das dichterische Ich
reklamiert seine Besonderheit, präsentiert seine Idiosynkrasien, ja
schafft sich erst in dieser Entfaltung eines Selbst, das inkommensurabel
zu sein behauptet.
Betrachten
wir vor diesem Hintergrund Bachtins Handlungsphilosophie in der
Philosophiegeschichte begrifflicher Selbstdemontagen, so erscheint sie als
zeitbedingter Versuch, das phänomenologisch unerträglich einzigartige
Subjekt gegen das transzendentale Subjekt, gegen den Apriorismus in der
Erkenntnistheorie, ja noch umfassender: gegen die identifikatorischen Zwänge
des Allgemeinen durchzusetzen. Aber ist nicht die Philosophie der
schlechteste Anwärter, über das Handeln zu reden, wenn doch gerade
Philosophen verdächtig sind, handlungsarme Figuren zu sein? Wir
beobachten hier einen Emanzipationsversuch des Besonderen, der in der
Philosophie mit Friedrich Nietzsche und Søren Kierkegaard mächtig
einsetzte, um ein dynamischeres Verhältnis zu seinem historisch allmächtigen
Gegenüber, dem Allgemeinen, zu begründen.
Einzigartigkeit
in Raum und Zeit
Michail
Bachtin intoniert in seinen Lob des Einzigartigkeiten das vitalistische
Leitmotiv mit eben jener Begeisterung, mit der Baudelaire und andere
Dichter-Flaneure die neuen verrückten Synästhesien der Städte erfahren
und in den Strom des Lebens eintauchen. Die Theorie, das Allgemeine, das
Schema, die Regel werden suspekt und als sinnliches Apriori untauglich,
wenn sich das Individuum in dem metropolitanen Rausch, den zahllosen
Kommunikationen und verrückten Kontingenzen ergeht. Bachtin formuliert in
der Philosophie die Konstruktion des „stream of consciousness“, der
als verantwortliche „Gedanken-Handlung“ nicht mehr nur eine
literarische Form sein will, sondern eine, ja die einzige ethische
Dimension zu sein behauptet. Henri Bergsons Neudefinition des Verhältnisses
von Raum und nicht fragmentierter Zeit gegen Immanuel Kant macht deutlich,
dass im Bewusstsein des rasenden Zeitgenossen die städtische
Raum-Bewegungs-Erfahrung das gemächlichere Königsberger Spaziermodell
ablöst. Eine auch ethisch neu inspirierte „Theorie der Handlung“ muss
deshalb her, weil im Vorschein einer technisch immer plausibleren
Globalisierung der Nächste der Fernste - wie umgekehrt - wird. Das
Fluidum der Modernität erfüllt sich in diesem merkwürdigen
Aufeinanderprallen sinnlicher Totalitäten und differenzierungswütiger
Theorie. Die vormalige Gleichtaktung der Interessen von Subjekt und
Gesellschaft, die je eine Chimäre war und in
Gesellschaftsvertragstheorien ideologisch vergeblich kaschiert wurde,
funktioniert in „volatilen“ Gesellschaftstransformationen weniger denn
je. Die leidlich praktikablen Rollenzuweisungen brechen auf, die
Revolutionen und ihre Inszenierungen bewegen sich auf der unsauberen
Schnittstelle des – welchen? – Subjekts und neuen gesellschaftlichen
Verheißungen einer besseren Zukunft. Verliert hier die Philosophie nicht
fortwährend ihren Gegenstand, die Einzigartigkeit dieses konkreten Seins,
des Daseins, wenn sie allgemein werden will, wo nur das Besondere Geltung
beanspruchen darf? Erholt hat sie sich jedenfalls davon noch nicht! Die
postmoderne Subjektgeschichte schreibt sich als eine Geschichte der Leere,
des Ereignisses, der Tücke eben dieses Subjekts, das den politischen
Impetus im Kollektiv nicht mehr verorten kann und doch ohne dieses
Kollektiv gar nicht „Subjekt“ genannt werden kann.
Cartesianische
Missverständnisse
Die
Beschwörung des „Einzigartigen“ macht Ulrich Schmids Behauptung nicht
nachvollziehbar, Michail Bachtin würde aufgrund seiner Rezeption des
Vitalismus zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft jenes Spannungsverhältnis
formulieren, das auch der dialektische Materialismus erfasse. Vitalismus,
Lebensphilosophie, Existenzialismus, auch Friedrich Nietzsches
leitmotivisch mächtige Theorie des Werteschaffenden, waren nie verdächtig,
die Philosophie politisch oder soziologisch aufzuklären, um die neuen
Helden der späten Moderne für ein machtvolles Handeln im Kollektiv
vorzubereiten.
Es
ist ein mehr oder minder leidenschaftlicher Appell dieser einzigartigen
Existenz, aus der heraus allein Denken und Handeln möglich werden soll:
Diese Handlung eines einmaligen Subjekts in dieser einmaligen Situation
soll zum Gegenstand philosophischer Betrachtung werden. Mit dem Postulat
der Einzigartigkeit verabschiedet der Antitheoretiker Bachtin keinen
geringen Teil der Philosophie, auch zahlreiche spätere Ansätze, die je
das Allgemeine und das Besondere in immer neue Vermittlungsoptionen
schickten. Edmund Husserl wollte zwar auch die Enthüllung des faktischen
Ego, aber dies sei nur im Rekurs auf apodiktische Prinzipien, auf
„Wesensallgemeinheiten“ (Cartesianische Meditationen) Erfolg
versprechend, wodurch das Faktum auf seine Möglichkeit bezogen und damit
erst wissenschaftlich würde. Husserl wollte sein Transzendentalitätsprojekt
keinesfalls mit den Hypotheken der "psychophysischen Welt"
belasten. Dieses transzendentale Ich, wenn es denn als Theoriewesen
existenzfähig sein sollte, hat mit Bachtins Einzigartigkeitssubjekt, pastörlich
gesprochen: mit einer konkreten Seele, wenig bis gar nichts zu tun. Wenn Søren
Kierkegaard mahnt, dass die meisten Menschen noch gar nicht begonnen hätten,
„Ich“ zu sagen, liegt darin der Befund der Vagheit der Konstruktion
„Ich“, das Ernst Mach für „unrettbar“ hielt. Dabei ging es der phänomenologischen
Methode darum, von wirklicher zu möglicher innerer Erfahrung und schließlich
in eidetischer Reduktion zu „invarianten Wesensgestalten“ der Psyche
zu gelangen. „Einzigartigkeit“ im Sinne Bachtins setzt sich dagegen
der Nachfrage aus, wie denn ein Phänomen erfasst werden soll als
moralische Kategorie des Handelns, wenn alle Momente dieses Handeln gerade
nicht im Rekurs auf Ähnlichkeiten oder intersubjektive Gewissheiten
bestimmt werden können.
Dieser
Wille des „einzigartigen“ Subjekts, sich zu finden, ist eine
Entwicklung, die gerade in den immer mächtigeren Objektivationen der
Gesellschaft, einer autonom sich gerierenden Technik und politischer
Megastrukturen historisch wie psychologisch verständlich wird. Die
Entfaltung des Subjekts stößt auf Vereinnahmungen, auf zahllose
Anmutungen des Objektiven, die Karl Marx etwa pointiert im
Fetischcharakter der Ware aufdeckt. Søren Kierkegaard hat auch versucht,
diese Zumutungen abzustreifen, zur Radikalität des eigenen Glaubens zu
finden. Und selbst in den bürgerlichen Varianten werden „der Einzige
und sein Eigentum“ bei Max Stirner zur vorgeblichen brisanten Botschaft
eines Ich, das "seine Sache" nur auf sich stellt. Nun war es
sicher ein Leichtes, Bachtins Ansatz als konterrevolutionär zu
brandmarken, weil Klassenkampf eben die (über)historische Abstraktion
schlechthin ist. Stalin, der ihn in die Verbannung schickte, brauchte
solche Gründe bekanntlich nicht, aber auch die reinere Lehre des
Marxismus-Leninismus konnte in Bachtins aufscheinendem Menschenentwurf
kaum ihr Subjekt wiederfinden. Die Solidarisierung der Arbeiter gegen das
ihnen aufgezwungene Tauschgeschäft setzt auf das Kollektiv, weder auf die
Einzigartigkeit der politischen Akteure noch die Dialogizität von
„Ich“ und „Du“: „Was ist also in
letzter Instanz dieser von Herrn Proudhon auferweckte Prometheus? Es ist
die Gesellschaft, es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, basiert
auf den Klassengegensatz. Diese Verhältnisse sind nicht die von
Individuum zu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist, von Pächter
zu Grundbesitzer etc… (Karl Marx, Das Elend der Philosophie).
Die
Theorie beraubt nach Michail Bachtin dagegen das Dasein seiner Ideale,
sodass das Handeln verarmt. Die Phänomenologie der Einzigartigkeit soll
sich nicht länger in das Allgemeine abdrängen lassen, welchen übermächtigen
Gesetzen es auch vorgeblich folgen will. Bachtins modische Ineinssetzung
von Kunst und Leben war ein mächtiger Trend, der in der Frühromantik
erste Ursprünge fand und nach dem russischen Prolet-Kult ein
Irritationsstoff blieb, um etwa bei Joseph Beuys noch einmal als übergreifendes
Programm politisch-künstlerischer und zugleich lebensweltlicher Aneignung
ausgerufen zu werden. Es geht um die Universalisierung des eigenen Seins
in der Angst, dieses Sein jederzeit verlieren zu können. Dieser Mythos
der Einzigartigkeit harmoniert nicht mit der diffusen Selbsterfahrung,
weder die Herrschaft im eigenen Hause zu besitzen noch dieses Selbst als
konstante Größe während einer Lebenszeit zu definieren. Das ist nicht
nur eine neuere psychoanalytische Erkenntnis, sondern seit je das Dilemma
der Philosophie, im Begriff den Zugriff auf die wahre Welt zu verlieren.
Hier setzt Bachtin an, weil er aus dieser konkreten Einzigartigkeit
konkretes Handeln ableiten will. Alle Organisation des Selbst hat diesen
einen Zweck, sich der Einzigartigkeit seines Seins zu vergewissern. Aber
wie wird darauf eine Handlungstheorie? Braucht es überhaupt noch eine
Handlungstheorie, wenn die Theorie die unübertragbare Kondition
kontingenter Subjekte verfehlt?
Handlung
als moralisches Problem
Eine
etwas abgenutzte Kalenderblattweisheit von Blaise Pascal lautet: „Das
ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in
einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Pascals groteskes Bild einer
Monadengesellschaft von verständigen Autisten, die nicht handeln, wäre
womöglich eine Option für das Paradies. Den Berichten zufolge dürfen
wir hier auf äußerst spannungslose, handlungslose Zeiten respektive
Ewigkeiten rechnen. Unter irdischen Auspizien ist indes irgendwann der Kühlschrank
leer und dann wird es – Pascal zufolge – gefährlich. Doch selbst das
häusliche Nichthandeln ist Handeln, wenn ich anderenorts gebraucht würde,
sodass jede Handlungstheorie schon mit einer fundamentalen Aporie beginnt.
„Handeln oder Nichthandeln“ ist womöglich gar nicht die Frage,
sondern moralische Reflexionen, die unsere vorgeblichen Entscheidungen
besser erträglich machen.
Bei
Michail Bachtin sollen die einzigartigen Drehbücher der Ereignisse im
Dialog mit dem „Anderen“ zusammengeführt werden. Die Konkretion der
„dialogischen Wende“ verschiebt das Problem vom Subjekt auf die
Subjekt-Subjekt (Anderer)-Ebene. Bachtin erweitert Martin Heideggers
Anspruch, dass der Mensch die transzendente Schaltstelle des Seins ist, um
den Anspruch, dass der Mensch auch „verantwortlich“ ist. (Tatiana
Shchyttsova) „Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen
gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann
nur durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend
spreche ich Du“, erläuterte Martin Buber. Dem will man nicht
widersprechen, ohne hier auf Antwort zu hoffen, worin ich denn eben dieses
„Du“, diesen „Anderen“, vormals – christlich formuliert - den
„Nächsten“, den ich lieben soll, zwingend verfehle, wenn doch
zugleich „Ich“ bereits ein „Anderer“ ist. Bachtin predigt auf den
Spuren von Hermann Cohen die Liebe des Anderen und verwirft die
Eigenliebe, ohne aber – wie auch bei
dem von ihm verwendeten Begriff „Verantwortung“ die ethischen
Ursprünge seines Anspruchs genauer zu rekonstruieren, weil universale
Begründungsfiguren gerade keine Geltung beanspruchen dürfen.
Philosophie
ist die Verdrängung einer Weltverfehlungsgeschichte, der weder die
Theorie noch der phänomenologische Einzelne, ob diesseits oder jenseits
des Dialogs, entkommen können. Moral wäre das Eingeständnis, den
„Anderen“ auch dann zu achten, wenn ich ihn nicht verstehe. Dieser
Perspektivismus wird spätestens gegenüber sozialen Objektivationen, die
nach Edmund Husserl den „Charakter von Personalitäten höherer
Ordnung“ haben können, ein schwaches Instrument. Denn das Problem der
kontigenten Konstitution von Subjektivität wiederholt sich auf der Ebene
der Intersubjektivität, die sehr verschiedene soziale Formen annehmen
kann. Ist deren Einzigartigkeit weniger Anlass für eine Theorie der
Handlung? Im Verlauf der weiteren Philosophiegeschichte werden
Handlungsstrukturen in Theorien des instrumentellen, strategischen,
moralischen oder kommunikativen Handelns untersucht, während Bachtins
Beitrag eine Randbemerkung bleibt. Der Reduktionismus der Gesellschaft auf
den konkreten Anderen, den Bachtin ähnlich wie Max Scheler vollzieht, ist
zudem so theorieschwach, weil ethische Fragen sich immer weniger im Gegenüber
mit dem Anderen artikulieren. Eine Ethik des Globalen kann nur in der
strukturellen Komplexität ermittelt werden, die für die neue Unübersichtlichkeit
der Verhältnisse verbindlich geworden ist. Das „Du“ ist nicht einmal
als Chiffre geeignet, Fukushima, Kinderarbeit in der Dritten Welt,
Hungersterben etc. zureichend zu bezeichnen.
Die
Erosion des Universalen
Der
Anspruch des Verstehens ist a priori partikular, weil eben die von Bachtin
beschworene Einzigartigkeit den Hiatus zum „Anderen“ insoweit unüberwindbar
erscheinen lässt, als der Dialog je nur eine Annäherung ist. Für eine
praktische Vernunft ist das viel, für die Euphoriker des Einzigartigen zu
wenig. „Erst wenn das Individuum selber das Allgemeine ist, erst dann lässt
sich das Ethische realisieren.“ Kierkegaards hegelianische Figur gibt
einen kleinen Hinweis auf die Herkunft des Einzigartigen, das bei Bachtin
ein phänomenologisches Wunderwerk bleibt. Der Existenzphilosoph hat es
noch härter formuliert, wenn er konstatiert, dass je weniger der Mensch
das Allgemeine in sich aufnehmen kann, desto unvollkommener er sei. Das hätte
Bachtin stutzig machen können, was denn so einzigartig sei, wenn es nicht
bezeichnet werden kann und sich hierin zuvörderst eine eklatante
philosophische Schwäche verraten könnte. Die ständig von Bachtin
repetierte Einzigartigkeit kann es nur geben, wenn sie mit dem Allgemeinen
abgeglichen würde, bis eben zu dem paradoxen Punkt, dass das Einzigartige
schon nicht mehr einzigartig ist, wenn es als „einzigartig“ bezeichnet
werden kann. Die Dialektik Kierkegaards, in der das Individuum das
Allgemeine und Einzelne zugleich ist, erschließt sich Bachtin nicht. Beim
ihm wird das Individuum zur existenzialistischen Überlastungsinstanz,
weil er den Remedien der Theorie nicht vertraut. „Die ursprüngliche
Einsicht Hegels besteht darin, dass Ich als Selbstbewusstsein nur
begriffen werden kann, wenn es Geist ist, d. h. wenn es von der
Subjektivität zur Objektivität eines Allgemeinen übergeht, in dem auf
Basis der Gegenseitigkeit die als nichtidentisch sich wissenden Objekte
vereinigt sind.“ Was Jürgen Habermas hier für Hegel feststellt,
bezeichnet zugleich das Problem jeder kommunikativen Schnittstelle
zwischen Individuen, die sich selbst dann in der Vermittlung ihres
Standpunkts zurücknehmen (müssen), wenn sie sich authentisch wähnen.
Gerade die Moral nimmt am Logos teil, weil anders sie eben nicht ihren
unabdingbaren Anspruch erfüllen kann, verbindlich zu sein. Das war die
eigentliche Erkenntnis der praktischen Vernunft, dass ihr allgemeiner
Anspruch für jeden zu formulieren ist und damit ein formales Prinzip
stark genug wird, inhaltliche Maßgaben richtigen Verhaltens anzugeben.
Auch wenn die Hoffnungen Immanuel Kants kaum berechtigt waren, das Problem
einer materialen Ethik auf eleganteste Weise vom universalen Anspruch der
Moral her zu lösen, so plausibel bleibt es, dass nur die Formulierung
eines verbindlichen Anspruchs im Sinne einer intersubjektiven bzw.
kommunikativen Vernunft akzeptabel sein könnte. Für Richard Rorty
markieren dagegen Wittgenstein und Heidegger den späten Anspruch,
"die Universalität und Notwendigkeit des Individuellen und
Kontingenten deutlich zu machen". Allerdings lautet das triste
Ergebnis dieser Vermittlung für den "Überläufer" Rorty, dass
die Philosophie kapituliert und lediglich "ehrenhafte
Bedingungen" vor der Dichtung aushandelt.
Wir
können Michail Bachtins antitheoretische Theorie aber auch als
vergeblichen Versuch lesen, mit den Mitteln der Philosophie die
Lebendigkeit des selbstgewissen Subjekts, seiner Idiosynkrasien und
Kontingenzen zu behaupten. "Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau
malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau
lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der
Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."
Hegel hat damit ante litteram zugleich jeder Lebensphilosophie beschieden,
ein unmögliches Geschäft zu betreiben, das Lebendige
in seinen zahllosen Kontingenzen „erkennen“ zu wollen. Bachtin
hat also wohl gut daran getan, sein Konzept in eine literarische Theorie
von Autor und literarischen Protagonisten zu verschieben, weil hier die
dialogischen und „polyphonen“ Verhältnisse nicht dem „Grau in
Grau“ der Philosophie und ihren universalen Geltungsansprüchen
unterworfen sind. So erkennt er bei Dostojewski diese ideale Darstellung
des Handelns im sozialen Gefüge, während der Theoretiker die Bedingungen
des Handelns nicht erfasse. Nun hat Karl Marx bereits Balzacs „La
Comédie humaine“ bescheinigt, mehr über
kapitalistische Verhältnisse zu verraten, als es die Theoretiker seiner
Zeit vermochten. Doch dieses Lob der Literatur erfolgte durchaus eigennützig:
Denn erst der wahre Theoretiker, also Karl Marx, würde diese faktenreiche
Sozioanalyse literarischer Provenienz auf den notwendigen Begriff treiben.
Michail Bachtin ist dagegen der Literatur treu geblieben. Der vorliegende
Text ist ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis nicht nur seiner
Literaturtheorie, sondern jeder Theorie dichterisch kontingenter
Weltaneignung gegenüber den universalistischen Anmaßungen der
Philosophie. Eine „Philosophie der Handlung“ als Theoriebeitrag für
die philosophische Wissenschaft vermag man nach zahllosen elaborierten
Versuchen, das Wesen menschlicher Handlung besser zu verstehen, in dem
vorliegenden Text aber nicht mehr zu erkennen. Gerade Bachtins
Ressentiment gegen die Theorie lässt das philosophische Projekt
aussichtslos werden, wenn doch die Theorie darauf beschieden wird, ihr
eigenes Versagen zu entlarven. Insofern markiert die „Philosophie der
Handlung“ einen Vorschein der Bachtinschen Literaturtheorie, die einen
besseren Ort anbietet, um der Dialogizität von Ich und Anderem nachzuspüren.
Goedart
Palm
Literatur
Michail
M. Bachtin, Zur Philosophie der Handlung, Matthes & Seitz Berlin,
April 2011
Harold
Bloom, Einflußangst: Eine Theorie der Dichtung, 1995
Richard
Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1991
Ulrich
Schmid, Der philosophische Kontext von Bachtins Frühwerk, in: Michail M.
Bachtin, Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, Frankfurt/M.,
2008
Theorie
als kulturelles Ereignis, hrsg. v. Pfeiffer, K. Ludwig / Kray, Ralph / Städtke,
Klaus / Berensmeyer, Ingo, Berlin 2001
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