Die nicht gehaltene (ungehaltene!) Abiturrede
von 1975 - wie sie sicher nicht hätte sein können:
As
time goes by
Von Peter V. Brinkemper
Jg. 1956 –
Abitur 1975 – Treffen 2006!
Die angeführten
numerischen Angaben und ihre statistischen Implikationen bedeuten
nur eins: Dieses Jahrgangstreffen hat es für alle Beteiligten
wahrhaft in sich.
Von einer
Panikversammlung zu sprechen, wäre übertrieben. Aber immerhin
begegnen sich im Alter schon recht fortgeschrittene
Abiturientinnen und Abiturienten einer renommierten Bonner
Bildungsanstalt (dem Helmholtz-Gymnasium und seiner weitgehend
geschätzten Lehrerschaft).
Einer der Zwecke
dieser Veranstaltung: Man will sich rechtzeitig noch einmal jung
erleben. Bevor dann in der anstehenden zweiten Jahreshälfte auch
dem Rest von ihnen unwiderruflich das 50. Lebensjahr anbrechen
wird. Den einen oder anderen Nachzügler ausgenommen.
Die
Standardfrage in Gruppen- und Cliquengesprächen wäre also nicht
mehr: „Weißt du noch?“
Sondern:„Bist
du noch?“, oder: „Bist du schon?“ Der Rest der typischen
Kommunikationsfloskeln wird sich aus diesen Einstiegsmustern und
dem darauf folgenden Resonanzspielraum zwischen den Einzel- oder
Gruppengesprächspartnern und ihrer strategischen Fluktuation
ergeben. Wir werden hinterher sehen, wie schnell und wie viel wir
von dem individuellen und kollektiven Informations- und
Erinnerungsgebirge durch intelligente, erbauliche und amüsante
Unterhaltungsstrategien abgebaut und verflüssigt haben.
II
Hatte unseren
Eltern Adenauer etwa keinen Rosengarten versprochen? Als
Babyboom-Generation, als unschuldige Wohlstands- und
Friedenskinder eines wirtschaftlich expandierenden
West-Deutschlands, - am in die Eifel und die Kölner Bucht
hinausträumenden Rand der niedlichen und scheinbar so überschaubaren
Bonner Republik -, ließ man uns nicht davon träumen, dass wir
einmal in den Strudel eines von Billiardenschulden gebeutelten
Standorts Gesamtdeutschland geraten würden. Die Region Westbonn (Endenich/Duisdorf/Hardtberg/Alfter),
der, wie dem ganzen Rheinland, nach nur kurzem
Wiedervereinigungstaumel und schlaffer gesamteuropäischer
Integrationseuphorie, nach dem Katzenjammer zum Hauptstadtwechsel,
und nun im Zeitalter der sich vollendenden Globalisierung und
wilder US-imperialer Anti/Terror-Politik allmählich die Luft
abgeschnürt zu werden scheint. Oder doch nicht?
Die politische
Identität unserer zum Teil ansässigen, zum Teil aus allen
Richtungen der Bundesrepublik rekrutierten Eltern stammt zumeist
aus einer nicht mehr von der Weimarer Republik geprägten Jugend,
die entweder zu jung war, um sich gegen Hitler und die Nazis
politisch wehren und absetzen zu können, oder jung genug, um ihn
und sein System nicht allzu bewusst zu erleben. Vielleicht waren
die ersten Töne, die elf Jahre nach Kriegsende an unser Ohr
gerieten, in der Tat Rock`n Roll, Reifenquietschen,
Kaugummi-Geschmatze, frisch angerissene Nylons, der dröhnende
Boden einer Zinkbadewanne und das Geschrei irgendwelcher
neonationalistischen Fußballfans im Radio. So wuchsen wir in die
zweckoptimistische Unterhaltungskultur einer Gesellschaft hinein,
die Wert auf zackigen wirtschaftlichen und sportlichen
Wiederaufbau legte, bis sich ein allgemeiner Trend zum linken
Denken über das konservative Fundament zu legen schien.
Den Übergang
von der auditiven Welt, Mutterohr und Vaterstimme, Transistorradio
und Stereophonie, bis zur öffentlich-rechtlichen Fernsehwelt der
60er und 70er mit der Illusion eines stabilen, dann auch
farbig-olympischen Fensters zur Welt haben wir relativ
reibungslos, in einigen Familien opulenter, in anderen
spartanischer, insgesamt jedoch fast nebenbei vollzogen, ohne zu
ahnen, was noch folgen sollte. Dabei war die Revolution in den
Wohnzimmern vorprogrammiert. Die Bilder-, Nippes- und Bücherwand,
das kollektive Esstisch- und Sitzeckenrund wurde in Richtung
Monitor und Unterhaltungselektronik aufgebrochen. Es sollten immer
schneller wechselnde TV-Modelle und Programme folgen, bis der
Streit um Gerät an oder aus, irgendwann nur noch um die richtige
Sendung, um die Fernbedienung, um die Anschaffung von Zweit- und
Drittgeräten durch eine konsequente Monitorisierung der
Kinderzimmer in den folgenden Jahrzehnten und Generationen „gelöst“
wurde. Während die Lehrerinnen und Lehrer uns noch an den
angeblich eindeutigen Geist eines vornormierten Schriftdeutschs
fesselten und uns überreichlich mit schöngeistigem, sozialem und
mathematisch-naturwissenschaftlichem Fachwissen fütterten,
schwelgten wir, meist brav auf den Korridoren, auf dem Schulweg
und im Eiscafe, in den kunterbunten Farben und Sounds der neusten
Hits, Kinofilme und TV-Serien oder Live-Sendungen, fühlten uns
oft eher als Schwarze und modisch Farbige, die immer wieder Hürden
überwinden mussten, um die elektronischen Stammestrommeln und
psychedelischen Stimmgabeln, auch denen unseres eigenen Körpers,
zu berühren. Die autistische Verkabelung der heutigen Kids(„Hä?“)
war noch fern. Mofas und Kassettenrecorder waren der letzte Schrei
für die persönliche Freizügigkeit oder musikalisch-erotischen
Mobilität von damals.
III
Als Kinder der
Bundesrepublik Deutschland und des westlichen „Kerneuropa“
einer mit relativem Frieden und ziemlicher Demokratie gesegneten
Zeit waren wir ein eigentümlicher Jahrgang.
Nur, was für
einer? Waren und sind wir überhaupt ein klares Kollektiv? Tragen
wir ansatzweise Züge einer typischen oder typologisierbaren
Kollektivität? Bis auf einige ältere oder sich reifer fühlende
Einsprengsel, sind wir keine echten 68er, sondern Nachzügler
zwischen den konservativen und progressiven, rechten und linken
Fronten, geben wir es zu, kleine Opportunisten eines schönen,
freieren und besseren Lebens, Verbraucher einer medienvermittelten
Hippie-oder-Rocker-Romantik mit vorlautem oder diskussionssüchtigem
Verhalten, damals langer Mähne, notorischem Parka über der Blue
Jeans, hier und da einer Portion politischem Protest, einem Stück
hart erarbeiteten Emanzipation und Rollenwandel, nicht nur beim
weiblichen Geschlecht. Aber in unserem Patchwork schließen wir bürgerliche
Werte, wie Karriere (zwischen Engagement und Konformismus,
Forschung und Routine, freier Berufsausübung und letzter
Beamtenbesoldung), Beziehung, Ehe, Familie, ordentliche Scheidung,
aber auch postbourgeoise Werte wie strategische
Lebensabschnittsplanung mit latenter oder manifester Vielpartnerei
und Vielkinderei nicht so völlig aus. Die spießige elterliche
Durchhalteparole (in konkurrierenden Beamten-, Angestellten-,
Soldaten-, Bauern- und Handwerker-Haushalten): „Du - sollst es
einmal oder sogar noch besser haben als wir“, wurde
„irgendwie“ vom schulischen Imperativ „Selbstbestimmung in
sozialer Verantwortung“, sowie der konsolidierten „Kurswahl“
unter nervöser Leitung durch das ehrgeizige Lehrpersonal, das den
partiell sozioökonomisch einflussreichen Elternpersönlichkeiten
in ihrem verbindlichen Normenkanon entgegen zu kommen schien, noch
verstärkt. Überlagert und verzerrt wurde das Leistungskonzert
von den schrillen und hysterischen Botschaften des zeitgenössischen
deutschen und englischen Pop, Stadion-Elefanten-Rock, des
Science-Fiction und Rest-Bildungsbürgertums sowie einer
ausufernden, noch nicht vom Internet gebündelten, pseudogemütlichen
Bonner Experto-, Büro- und Soldatokratie, in der der linke
Schwung anderer Regionen Nordrhein-Westfalens, der
Schimanski-Welt, fast widerstandslos ausgebremst zu werden schien.
Wer stellte
schon ernsthaft im lauten Gedudel der illusionären westdeutschen
Bastion die entscheidende Frage, ob das einzelne Individuum dieses
Jahrgangs mit kognitiver, sozialer und emotionaler Intelligenz
hinreichend ausgestattet war bzw. ausgerüstet wurde, um all die
widersprüchlichen Ansprüche für sich und die seinen umzusetzen,
ohne bei Misserfolg und Versagen die Schuld „auf die
Gesellschaft und Verhältnisse“, wie gelernt, zu verschieben?
IV
Unser
prominenter späterer Analytiker, Reinhard Mohr, hat unseren
Jahrgang als „Zaungäste“ bezeichnet. Nach dieser Metapher wären
wir also als eine fast wirkungslose Zwischenschicht in der
Baumrinde, die von den gesellschaftlich „prägenderen“
Generationen, den politisch aufgewühlten, machtbewussten 68ern
und den karrierewütigen neoliberalen 80er Yuppies verdrängt oder
fast aufgerieben worden sei. Über die langfristige Gültigkeit
dieser These wage ich nicht zu urteilen. Und vielleicht wird uns
hier unser Treffen, als eine Form der Revision, eines besseren
belehren. Die andauernde Publizität, aber auch ewige
Selbstzerfleischung der konkurrierenden Jahrgänge ist noch kein
Zeichen echter Nachhaltigkeit. Heute können sich die 56er und die
Nachbarjahrgänge mit ihren jüngeren Geschwistern, der Generation
Golf vergleichen, oder sich über die Multikulti-„Kinder“, der
Generation Mobile und i-Pod wundern.
Wir waren Kinder
und Jugendliche in Wartestellung. Im gesamtgesellschaftlichen,
politischen, kulturellen und ideologischen Gerangel der Republik
um die richtigen Orientierungen und Werte waren wir verwirrt, aber
auch misstrauisch genug, um dem Wohlstands-Szenario und seinen
Aussteiger-Alternativen nicht völlig auf den Leim zu gehen. In
einer Vielzahl von Fällen haben wir unsere Jugend maximal zu verlängert,
die Jugend als Luxus-Artikel und Konsum-Dauergut genossen, als ein
weiter hinaus gestrecktes Stadium und Studium mitten in einer
langsam verebbenden Wohlstandsgesellschaft. In diesem
psychosozialen Stretching nach allen Seiten liegt, wie ich meine,
eine unserer besonderen Lebens- und Überlebenskünste. Gerade
auch dort, wo der Ernst des Liebes-, Ehe-, Trennungs-,
Scheidungs-, Alltags- und Verdienstlebens längst angebrochen war.
Wir waren auch da noch Behütete, wo wir uns selbst vor den alten
Torheiten, Risiken und Katastrophen des zu frühen Erwachsenseins
schützten. So vorm leidigen Effi-Briest-Syndrom (Mutter
verschachert Tochter an Exgeliebten, die sich genauso zu
langweilen beginnt, bis das Unheil in einer auch langweiligen,
aber preußisch zuende geführten Affäre naht). Ist Bonn Effi, die
jetzt in Berlin zuende duelliert, verschrödert und vermerkelt
wird? Dafür begingen wir scheinbar neue individuelle und
kollektive Verrücktheiten, die sich gelegentlich als die alten
herausstellten. Wir wollten einen neuen Zyklus im Serienbau der
Generationen. Und wir gerieten in das Splitting neuer und alter
Lebensschleifen, in die wir Zeit und Geld investieren mussten, um
in sie einzutauchen und wieder aus ihnen herauszufinden.
Wir haben uns
weder von den sogenannten „konservativen, rechten“, noch den
„progressiven, linken“ „Parolen“ eingemeinden lassen. Wir
sind, wider unseren eigenen oder wohlmeinenden fremden Willen, der
alten Familien- und Sippenwelt entronnen, ohne ins eintönige
Medien- und Dienstleistungsuniversum der heutigen
Erlebnisgesellschaft zu fallen. Wir haben, wenn uns etwas
verbinden mag, den Weg eigenwilliger Hedonisten, Idealisten oder
Pragmatiker in individuell recht unterschiedlicher Art und Weise
beschritten. Dass dabei Professoren, Doktores, Baulöwen,
Unternehmer, Businessleute, Ärzte, Anwälte, Kommandanten, Pädagogen,
Künstler, Dienstleister, WeitEntfernte, SehrSehrNahe, Supermütter,
Superväter, zauberhafte kinderlose Pärchen, interessante Singles
und andere ungewöhnliche Existenzen mehr, viele mit gezackten
Lebenslinien, herausgekommen sind, steht dazu nicht im
Widerspruch. Einige von uns vermissen wir heute, wenige
schmerzlich, weil unwiderruflich.
V
Wie lange werden
wir noch optimistische Jugendliche im Sinne der 56er bleiben?
Keine Frage von Panik, oder? Eine gewisse Abgeklärtheit steht im
Widerspruch zu wider anbrechenden, erneuten Erwartungen… Ist das
die ewige Wiederkehr oder eine offene Spirale? Im Zeitalter des
Posthistoire werden Abiturjubiläen immer weniger Gedenkfeiern
sondern Jugendlichkeits-Simulationen darstellen. Die Kunst des
Erinnerns tritt an gegen die Technik des Verdrängens, doch wofür
soll man sich nun entscheiden?
VI
Warum treffen
wir uns erst 2006, und nicht schon 2005? Ist Kommunikation noch
ein echtes Erleben, oder nur noch eine Frage der Termin-Ökonomie
im Zeitalter des endgültigen Erwachsenwerdens? „Alles klar auf
der Andrea Doria“ intonierte das Panikorchester, als wir aus dem
Pforten der Schule stürmten, in dem irrigen Glauben: „Ice
Cream, Ice Cream, Everybody wants Ice Cream.“ In diesem Sinne,
viel Spaß und Merci. Vielleicht sehen und sprechen wir uns demnächst
mal öfters.
Peter V. Brinkemper
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