Gemischte Klasse
Prolog
Klasse, Masse, Rasse. Mit diesen drei brisanten
Topoi ließe sich die politische und gesellschaftliche Geografie dieses Jahrhunderts in
ihren Höhen und Tiefen skizzieren: gesellschaftliche Frontlinien, ethnische Abgründe,
unnachgiebiger Klassenhass, aber auch späte Freundschaften, der ewige Kampf der Vernunft
gegen das Reptiliengehirn, transnationale Kollektive, die sich ältester Ressentiments
entschlagen wollen. Der Erdball hat viel Platz für Widersprüche, fruchtbare, fruchtlose,
befristete. Kein geringer Aufwand in dieser besten aller möglichen, vielleicht auch
schlechtesten aller wirklichen Welten eine Äquilibristik zu finden, die bis zur nächsten
Katastrophe währt, um wieder mühselig aus den Trümmern neue Hoffnungen zu schöpfen. Da
war einer, der kurzerhand die gesamte Geschichte als Historie von Klassen, ihren Kämpfen
und Neuschöpfungen schilderte. Klassen seien der Motor der Geschichte, bildeten den
Gesellschaft gewordenen Widerspruch, der das Wissen einer besseren Gemeinschaft birgt.
Aber auch diese aus dem Kopf geborene Theorie war nicht auf die Füße zu stellen. So
wurden die wissenschaftsgläubig ermittelten Klassen der Theorie abtrünnig, versagten
sich den spät verordneten Geschichtsbildern, wurden promisk und die Umrisse vormaliger
Klassen verflüchtigten sich bis zur Unerkennbarkeit.
Oder ist dieser Befund selbst vorschnell, Resultat
einer neuen Perfidie des Klassendenkens, eine Camouflage, die sich aus schlechten
ideologischen Gründen nicht eingesteht, dass Menschen in verschiedenen Booten sitzen, bis
dass die Sintflut sie holt? Und die im einen Boot helfen nicht jenen im anderen, sondern
sehen dem fremden Schicksal gelassen entgegen. Narrenschiff, Nussschale, Luxusliner,
Titanic: So vielfältig die Gelegenheiten, erster, zweiter oder dritter Klasse
unterzugehen, so klassenlos lässt der Tod schließlich zusammenwachsen, was zu Lebzeiten
nicht zusammengehörte. Aber vor der Arbeit des großen Gleichmachers ist Zeit genug,
Differenzen, Distinktionen, feine wie unfeine Unterschiede zu hegen und zu pflegen. Zu
Lebzeiten ist des Menschen Wille durch viele Zugehörigkeiten, Abhängigkeiten,
Widrigkeiten vom vorgeblichen Himmelreich klassenlosen Glücks geschieden. Klassen
organisierten sich seit den frühen Hochkulturen von oben nach unten und was
Fürst-Pückler-Eis und der Heilslehre von den Guten und den Bösen frommte, sollte
stratifizierten Gesellschaften nicht schaden. In diesen Schichtungen sedimentierte sich,
was zunächst dem göttlichen Ordnungsgeist, später der "natürlichen"
Ungleichheit der Menschen zugeschrieben wurde. Der Schöpfer hat auf die klassenlose
Paradiesgesellschaft zwar die im Schweiße ihres Angesichts schuftende
Vielklassengesellschaft initiiert. Aber eine Aufklärung, die nicht nur Epoche sein
wollte, entschied, dass die Fehlentscheidung des Schöpfers erst in der Theorie, und dann
in der Praxis revidiert werden sollte, um zum klassenlosen Paradies zurückzukehren.
Minima historia
Warum entstehen Klassen? Ontologische, politische
soziologische Theorien wetteifern um die Erklärung der Genese von Klassenbildungen. Mag
man die natürliche Ungleichheit der Menschen bemühen, sich darwinistisch rückversichert
glauben oder die "natürliche" Pervertierung des Menschengeschlechts als
fundamentalontologischen Befund dafür verantwortlich machen, dass sich Gruppen abzirkeln
und eine eigene Identität ausbilden. "Hunde haben keinen Zutritt" heißt immer
jenes bedrohliche Schild über den Klubs derer, die die Definitionsgewalt darüber haben,
wer ein Hund sei. Klassen entspringen der Furcht vor einer Gleichheit, vergewissern sich
der Unterschiede, um sie zum Herrschaftsanspruch zu legieren. So ist Zugehörigkeit zu
einer Klasse bereits das "privilegium" der Träger, nicht deren Eigenschaften.
In dieser Logik regieren zuvörderst Zeichen, nicht die Qualitäten der Ausgezeichneten.
So entbindet ein gnädiges Klassenschicksal die Träger von ständigen Irritationen ihres
Selbstverständnisses, während die Parias Gesellschaften als immer währenden Ausschluss
ihres Glückseligkeitsanspruchs mit oder ohne Gottes Hilfe ertragen mussten. "Du hast
keine Klasse, aber du gehörst einer an" war das uneingestandene Leitmotiv
gesellschaftlicher Klassenbildung, die den Einzelnen von dem Druck entlastete, selbst
authentisch zu werden.
Die "Durchmischung" gesellschaftlicher
Klassen war Jahrhunderten zuvor Teufelszeug, Kuppelei wider den heiligen Ordnungsgeist,
der Einbruch der sozialen Architektur, die sich ihre himmelwärts strebenden Türme nur
auf dem gesicherten Fundament der gottgegebenen Ungleichheit der Menschen leisten wollte.
Nur so ließen sich Pyramiden bauen, Weltmeere durchpflügen oder Schlachten schlagen. Es
war damals noch kein Privileg, in der erste Reihe zu stehen, wenn das Signal zum Angriff
geblasen wurde. Allein Helden mochten sich über Klassen erheben, weil sie selbst genug
Klasse hatten, ohne auf eine angewiesen zu sein. Immerhin sanktionierten kluge Herrscher
den klassenlosen Übermut von Helden nicht selten dadurch, sie in den Adelsstand zu heben,
zur Klasse der Herrschenden aufsteigen zu lassen, weil Klasse ohne Klassenzugehörigkeit
ein gesellschaftlicher Sündenfall geblieben wäre. Nicht nur im romantischen Märchen
wird der Durchlauf der Feuerproben zur Voraussetzung der Inauguration des Helden.
Prinzessinnen warten auf den Besten, der sich gegenüber den Herausforderungen der Welt
erfolgreich erweist, um durch das allfällige Glück am heimischen Herd, in der heimischen
Herde belohnt zu werden. So kam die Welt nach erfolgreichem Heldentum wieder ins Lot der
Herrschaft, und frühe Funktionseliten und blaues Blut gingen genetisch wertvolle
Verbindungen ein.
Ähnlich war es Liebenden beschieden, den Aufprall
der Klassen in ihrer Liasion abzufedern, weil die Liebe gesellschaftliche Definitionen
missachtet, um sich so ihrer Exklusivität zu versichern. Aber nicht selten zahlten auch
die Liebenden den Preis der Grenzverletzung, wenn die Liebe lieblosen Gesellschaften als
mesalliance wider das heilige Gesetz der Klassen galt. Abelaerd brach man das Gemächt,
weil Heloise die falsche Klassenwahl war. So sollte man seinesgleichen besteigen, weil dem
Inzesttabu ein mächtiges Tabu zur Seite stand: Klassen sollten nicht durchmischt werden.
Nun war die vorgeblich sexuelle Klassenzwangsmoral aber nie so sakrosankt, dass sie nicht
den fröhlichen Parcours durch fremdes Körperterrain eröffnet hätte. Denn Schönheit
oder Fertilität waren viel zu kostbar, als dass sie in ihren sozialen Grenzen belassen
worden wären.
Zucht und Züchtung
Der Transit zwischen den Klassen eröffnete sich
somit solchen Qualitäten, die in abgezirkelten Klassen nicht mehr ausreichend generiert
werden konnten. So starben Dynastien aus, gingen Herrschaftshäuser ohne Kind und Kegel
unter, wenn je nach genetischer Ausgangssituation keine
"Klasseweiber" gefunden wurden, die Herrschaft der blaublütigen Linien zu
sichern.
So verband sich etwa Karl V. der Blombergerin, um
den Anführer der Heiligen Liga und Sieger von Lepanto zu zeugen. Niemand, der Juan
d´Austria deshalb Rotzbankert geschimpft hätte, weil er zur gemischten Klasse gehörte.
Philipp II. half dieses frische Halbblut seines Halbbruders zwar wenig, sein Weltreich
zusammen zu halten und seine eigene Fortpflanzungspolitik, von Schiller in "Don
Carlos" genetisch nachveredelt, war von geringstem Erfolg geprägt. Mag hier das
Prinzip gefunden werden, dass nur Mischungen der Klassen langfristig Herrschaften sichern
und die Biologie soziale Abgrenzungen und Zirkel immer wieder provoziert. Die
Nationalsozialisten trieben dieses fragile Wissen in den Irrsinn der programmatischen
Menschheitsveredelung, die im Selbsthass der Tötung "unwerten Lebens" endete.
Zucht und Züchtung sind indes alles andere als abgelegte Kapitel dunkler Geschichte. Im
deutschen Philosophenstreit zum Gen-Projekt der "Menschenproduktion" wird in
diesen Tagen von den einen das dritte Millennium mit neuen Übermenschenfantasien
begrüßt, während die anderen hier den ethischen Untergang des Abendlands verorten.
Entsteht schon bald die Herrenklasse genetisch wertvollster Mischungen, der gegenüber der
"natürliche" Rest der Menschheit das Schattenklassendasein der genetischen
Zufallsproduktionen fristet? Zarathustra ad portas? Hier zeigt sich, dass der
Betriebsstoff neuer Klassenbildungen längst nicht ausgebrannt ist, sondern in den
Untiefen wertfreier Wissenschaften sozialexplosive Energien lagern, jederzeit bereit,
Gesellschaften in unabsehbare Konfusionen zu schleudern.
Klassenclowns
Stände und Zünfte, Drei-Klassen-Wahlrecht und
Korpsgeist, Insignien und Kragenspiegel markierten zuvor über Jahrhunderte
undurchdringliche Klassenräume, entsprachen einer unversöhnlichen Logik kollektiver
Identität, die sich nur in der Abgrenzung vom Anderen erkannte. Allein Einzelne, skurrile
Gestalten wie etwa Harry Domela, der selbst ernannte Hohenzollernprinz, oder der Hauptmann
von Köpenick durchbrachen für eine kurze Zeit die ungnädigen Zuweisungsentscheidungen
ihrer Geburt, um die Identitätsschwächen der Klassen zu belegen. Sie waren keine
Klassenkämpfer, die das Daseinsrecht gesellschaftlicher Gruppierungen fundamental in
Frage stellten. Nein, sie mischten sich für eine kurze Zeit des Höhenrauschs in die
fremden Klassen derer, die sich an Namen, Titeln, Kragenspiegeln, Schulterklappen und
Umgangsformen erkennen. Als Hochstapelei galt den Düpierten, was letztlich nur bewies,
wie wenig Persönlichkeit und wahre Klasse die Klassenverhältnisse im Innersten
zusammenhält. Solche Provokationen waren saturnalische Zwischenspiele, weniger aus der
Lust als auch der Not geboren, dem Klassendruck zu entkommen, um ihn letztlich zu
konfirmieren. Harry Domela wollte nach seinem Gastspiel in Adelskreisen in die klassenlose
Fremdenlegion, die nicht nach Herkunft und Geblüt ihrer Kämpen fragt, ausbüchsen. Aber
die Gesellschaft lachte über ihn, ohne dabei einen Moment zu vergessen, mit seiner
Grenzverletzung abzurechnen. Domela war praktischer Soziologe, der endgültig den Glauben
vernichtet hatte, die Saxo-Borussen und andere schlagende Verbindungen wären etwas
anderes als der juvenile Abschaum einer degenerierten Klasse. Selbst ein Hohenzollernprinz
ist nicht mehr als eine inszenierte Persönlichkeit, die nur nach einem distinguierten
Schauspieler ruft. Im Ein- und Ausschlusssystem dieses Klassencodes konnte es also
Verletzungen geben, aber die Daseinsberechtigung der Klasse und ihrer Angehörigen wurden
in den traurig-fröhlichen Realsatiren der "trickster", die über die Gräben
der Klassen hupften, nicht ernstlich in Frage gestellt.
Klassenkampf
Die historisch nachhaltigste Provokation der
Klassen, ihrer symbolischen und ökonomischen Definitionen, ging von Sozialromantikern,
Revolutionären, Klassenkämpfern aus, die hölzerne Barrikaden errichteten, um soziale
niederzureißen, weil nur so dem Zeitgeist auf die Sprünge wider das Unrecht zu helfen
wäre. Die frühen Glückssucher jenseits der Klassenordnungen waren glücklose
Konquistadoren einer utopischen Menschlichkeit. Robert Owens etwas fasste in seiner
Glückskolonie "New Harmony" die Klassenmüden zusammen, um der Harmonie aller
jenseits vormaliger Unterschiede ein Daseinsrecht zu geben. Es funktionierte nicht, weil
sich der Virus der Klassen von Geburt an in diese Utopie des guten Glaubens einnistete.
Den frühen Sozialharmonikern folgten die Revolutionäre auf dem Fuß und danach
erschienen ihre Sequester wie etwa Napoleon, der in dem nicht verlorenem Wissen
über den klassenlosen Pöbel seine Maxime fand: "Die ersten 500 muss man
niederkartätschen, der Rest läuft von selbst weg." Mag sein, aber sie kamen dann
doch wieder und stärker denn je, sie vertrieben Zaren, Kaiser, Könige und kartätschten
nun selbst die Herrschaft auf Menschenmaß und - hass zusammen. Die klassenlose Klasse der
Revolutionäre wirbelte die Klassen durcheinander, jeder zunächst ein citoyen und
wehe wenn nicht später Genosse, Arbeiter oder Bauer, bis jene klassenlose
Urgesellschaft im säkularen Paradies wieder erstehen sollte, die als Ausgang und Ziel der
Geschichte den klassenlosen Zustand suchte. So versteckte sich der Adel unter den
Bürgerhüten, soweit seine Häupter nicht bereits in den blutnassen Flechtkorb unter der
Guillotine gefallen waren und harrte in der Uniform der zwangsgemischten Klasse auf seine
Wiederauferstehung, die so sicher sein müsse, wie Klassen Gottes ureigenstes Gesetz sein
sollten. Unter dem breiten Mantel der Gleichheit und Brüderlichkeit entstanden
zwangsgemischte Klassen, jederzeit bereit, sich zu entmischen. Aber auch die Restauration
der alten Klassenherrlichkeit blieb Episode.
Die Wissenschaft der zwangsgemischten
Klasse
Allein der letztlich Gespenst gebliebene Geist des
Kommunismus materialisierte in der Theorie, was jede gesellschaftliche Praxis fürderhin
und endgültig bestimmen sollte. Der Traum der klassenlosen Gesellschaft, nicht weit von
den paradiesischen Erinnerungen, den Urchristengemeinden und sozialromantischen Fantasien
entfernt, verlangte nach Wissenschaft, weil allein diese als Garant einer
Wirklichkeitsbeziehung galt. Auch wenn es angeblich allein darauf ankommt, die Welt zu
verändern, muss man sie aber zuvor verstehen. Und die radikale Wissenschaft von der
klassenlosen Nachgeschichte hat sich redlich gemüht, die Veränderungen hin zur
klassenlosen Gesellschaft als das letzte Wort der Geschichte zu verstehen. Aber was vermag
Wissenschaft, wenn die launige Geschichte so wider jede Menschenvernunft keine Einsicht
hat? Geschichte spottet wie immer den Gegenwarten, Vergangenheiten und Zukünften besserer
Gesellschaften. Der ungestüme Sohn Marx wurde posthum von der Erkenntnis seines Vaters
Hegel wieder eingeholt, dass die bestehende Gesellschaft immer die beste ist, weil anders
sie nicht vernünftig wäre. Auch wenn der preußische Staatsphilosoph mit der Fantasie
des zur Freiheit galoppierenden Weltgeistes den größten Anlass gegeben hatte, über Wohl
und Wehe künftiger Gesellschaften geschichtsmorphologisch zu spekulieren, blieb doch die
immer währende crux, dass absolute Freiheit nicht Befreiung des Menschen meinen könnte.
So wähnten sich die working-class-heroes zwar zunächst in den Sätteln der
apokalpytischen Reiter zu reiten, fegten unter der roten Schirmherrschaft der
Internationale über die Bastionen der Unterdrücker hinweg, radierten wütend alle
Zeichen der Klassenherrschaft aus. Schon schien der Mensch in die wahre Geschichte
brüderlichen Daseins einzutreten, das die Sansculotten großmundig postuliert hatten.
Doch der Klassengeist war heimlich mitgeritten, nistete sich in den befreiten
Gesellschaften ein. Auch die sozialistischen Gesellschaften retteten jenes verfemte
Klassenbewusstsein über die niedergerissenen Barrikaden ins neue Diesseits. Im Zeichen
der Gleichheit wurden die Genossen neu klassifiziert. Jeder Mensch sei ein Proletarier,
aber diese Zuschreibung löschte nicht das hartnäckige Erbe, doch noch gleicher sein zu
können, als es die meisten je sein würden.
Dem Klassenkampf, der zudem international sein
Werk vollenden wollte, wurde der Kampf angesagt, aber in der Theorie war er nicht zu
schlagen. Er krepierte am Ungeist der Planung des Nichtplanbaren. In der selbstgewissen
Dialektik einer Geschichte, die den Menschen zu sich kommen lässt, triumphierte eine
ungleich vitalere Dialektik, die den Menschen wieder in die unerträgliche Leichtigkeit
des Seins hinausstößt - ohne archimedische Haltegriffe und andere Daseinsgewissheiten.
Immerhin: Niemand reklamiert mehr, dass Klassengesellschaften der Natur des
Menschengeschlechts entsprüngen, dass dem Menschen hier das zuteil wird, was gottgewollt
sei.
Die Statthalter des Klassenkampfs sind, mit
wenigen, müde gewordenen Ausnahmen, nicht mehr unter uns. Ihre Bastionen erwiesen sich
als weniger haltbar als die Fortifiationen des Adels, die heute wenigstens noch
Denkmalschutz genießen: Krieg dem asbestmorschen "Palast der Republik", Friede
den Hütten von Marzahn, so hat sich das revolutionäre Wissen des "Hessischen
Landboten" wider die kleinbürgerliche Revolutionsverwaltung selbst gerichtet.
Überlebende Klassenkämpfer wie "El maximo lider" Castro treffen sich mit dem
Pontifex maximus heute zum fröhlichen Stelldichein vormals unversöhnlicher
Klassenstandpunkte. Zwar müsste der Diskurs weiter unversöhnlich sein, wenn er denn noch
geführt würde, aber in der Gemengelage der Interessen muss auch die kubanische
Weltrevolution warten, wenn sie sich mit dem internationalen Ansehen, sprich: der nackten
Not zu überleben, nicht verträgt. Schlechte Zeiten für Klassenkämpfer.
Reiche Erben
Nachdem der vormals ideologisch so gefestigte
Klassenkampf mit dem Untergang des irreal existierenden Sozialismus als ausgefochten gilt,
etablieren sich nun in den Diadochenstaaaten des einstigen Vielvölkerimperiums der
Sowjetunion postsozialistische Klassen. Der Kampf dieser Klassen gilt dem Geld, dessen
Heilsfunktionen den Solidargeist kommunistischer Brüder- und Schwesterschaften ersetzt
haben. Dass Geld die Welt regiere, ist keineswegs neues Wissen, doch schien dieser
Gemeinplatz der kapitalistischen Welt und ihrer verruchten Geldmachtmoral reserviert zu
sein. In den Planwirtschaften, die vorkapitalistischen Tauschgesellschaften angenähert
waren, war das Geld lediglich eine müde Verrechnungseinheit, die den Tauschakt einer
Mangelwirtschaft kaschierte. Inzwischen ist das Ostgeld mit der guten Fortpflanzungsmoral
ungehemmten Wirtschaftens aufgeladen, das neue, schnelle Geld des Ostens atmet
kapitalistische Sprengkraft. Die neuen Klassen osteuropäischen Magnatentums scheinen mit
dem vormaligen Fronsystem oktroyierter Freiheit nicht zuletzt durch ihren luxurierenden,
spätrömischen Lebensstil abzurechnen, der die Nähe zur mafiosen Weltherrschaft als
Sahnehäubchen auf dem Kaffee goutiert. Während der symbolisch sedierte Kapitalismus
Klassendistinktionen im "casual look" jugendlicher entrepreneurs verwischt, will
die neue S-Klasse alerter Jungunternehmer Osteuropas noch den Prestigemehrwert solcher
West-Ikonen wie "Mercedes", "Rolex" und "Lacoste"
abschöpfen. Nach Jahrzehnten rationierter Verwaltung des Mangels herrscht nun der Glaube
dieser Klasse, dass fast alles Gold ist, was glänzt. Es ist eine weitere Ironie der
Geschichte, dass die Differenzierungen von Klassen nach dem Fall der Nomenklatura sehr
viel schärfer ins Fleisch der Gesellschaft schneiden als im Westen.
Intermezzo: Küchenweisheiten
Gemischte Klasse? Dass man Schokolade mit Vanille
zum gemischten Eis veredle, stieß nie auf eine Apartheidspolitik frugaler Ausgrenzung
gegenüber den Versuchungen des Gaumens. "Fruit of the season" ist ein
gesicherter Standpunkt kulinarischer Klassentranszendenz, zumal der Norden, jenseits von
Rang und Klasse, sich diese Früchte des Südens ohne ethnische Vorurteile zuführte. Auch
heimische Gewürze und ihre exotischen Überbietungen treffen sich in der klassenlosen
Herrschaft des Kochtopfs zum Amalgam des Geschmacks und der Geschmäcker. Vorbei die
Zeiten, als nur reiche Pfeffersäcke ihre Speisen bis zur Unerträglichkeit würzen
konnten, um ihren Reichtum nicht nur an schlechtem Geschmack, sondern auch ihrer Klasse
den Geschmack des Reichtums vollmundig zu beweisen. Küchen sind zum ehestens die
Erfüllung multikultureller Klassenlosigkeit, in der sich italienische Pasta, britische
Hotdogs, französisches Entrecôte oder australischer Weißwein im Geiste kulinarischer
Einverleibung treffen und über ausladende Speisenkarten inzwischen alles fleucht und
kreucht, was Gott wohlgefällig al dente und mit gleicher Liebe schuf. Was der Gourmet
nicht kennt, das isst er. Klassenherrschaft? Selbst Bocuse riskierte vor laufenden Kameras
den Biss in den Burger, ohne den Big Mac als gröbste Versuchung, seit es Junk-food gibt,
zu verschmähen. Nicht, dass die Gastronomie nicht gerade die feinen und die feinsten
Unterschiede kennte, aber wo denn, wenn nicht hier, war schon je die Lust an den Mixturen
das Rezept des Gelingens. Aber Küchenweisheiten sind nicht der letzte Schluss
klassenloser Vereinigung, sondern lediglich der Vorschein einer Weltklasse konsumierender
Aneignung. "Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral" mag sein, aber es
gibt auch eine moralische Gefräßigkeit, die sich zuletzt selbst verzehrt, um zu
überleben.
Postideologische Mixturen
Postideologie nennen wir den Standort der
Standortlosigkeit, den die einnehmen, die ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit nicht mehr
über Herkunft, Blut oder Theorie definieren. Die alte Klassenherrlichkeit ist out. Die
vormaligen Klassenkriterien schrumpfen zusammen. Geld, Wissen und Schönheit sind die
härteste Währung gesellschaftlicher Differenzierung. Im Westen fielen die Fronten
zwischen Adel und Bürgern, Bürgern und Arbeitern gesellschaftlichen Veränderungen zum
Opfer, die längst nicht abgeschlossen sind. Menschen reflektieren Funktionen und
bewältigen ohne die alten Klassen das, was der Fortschritt, der ein flüchtiger
Standpunkt wurde, Gesellschaften abverlangt. Geld und Wissen sind die Betriebsstoffe einer
turbokapitalistischen Welteroberung, die sich von alten territorialen und nationalen
Inbesitznahmen löst und neue virtuelle Reiche erobert. Klassen verlieren ihre
unauflösbare Lebenszeitgarantie, bilden sich im Tempo der Geld- und Wissensströme neu.
Der Gewinner des heutigen Tages mag aber schon morgen aus dieser Klasse herauskatapultiert
werden, und sich im namenlosen Lager der Besitzlosen wiederfinden.
Das Argumentationskapital gesellschaftlicher Lager
vermischt sich in immer neuen Positionen, die nicht mehr auf traditionelle
Klassenstandpunkte rückprojiziert werden konnten. Mit welchem Elan suchte man sich noch
in den 70er-Jahren seine Meinung zu erkämpfen. Der Glaube an den Diskurs, der zur
Überzeugung des politschen Gegners führen könnte, war noch jung. Aber schon bald wurden
die Meinungen hohl, weil die Heilsversprechen von allen Kontrahenden zu lange gegeben
wurden, ohne ihre Einlösung noch zu Lebzeiten wahrscheinlich werden zu lassen:
"Hältst Du es mit dem Regenwald, ist Dir das Ozonloch Anliegen, oder hast Du Dich
von gesellschaftlicher Verantwortung entpflichtet, weil Du nur noch indivduell überleben
willst?" Die Perspektive der Demokraten schrumpft allenthalben auf nackteste
Ökonomie und eine apathische Nachgeschichte zusammen. Übrig bleibt die vor allem in
Parteiprogrammen grassierende Beliebigkeitsmelioristik, die ungesicherte Direktive, alles
müsse irgendwie besser werden, obzwar die Deckungsmasse dieser Melioristik längst
abhanden gekommen ist. So wächst zusammen, was nicht zusammengehört. Es mischt sich, was
nach dem alten Periodensystem der gesellschaftlichen Elemente keine Bindungen eingehen
dürfte. So verbünden sich Konservative und Progressive im Zeichen einer fragilen
Ökologie, so wie sich entzweien. So werden Friedenskämpfer zu Humanbellizisten im
Gefolge der allmächtigen Weltpolizei. Politische Klassen, vormals durch unüberwindbare
Gräben getrennt, werden zu Koalitionsverhandlungen heruntergefahren.
Die Verhältnisse werden freilich nur dem
unübersichtlich, der seine Übersichtlichkeit einer antiquierten Theorie der geschiedenen
Klassen verdankt. Übersichtlichkeit ist das Postulat von Theorie. Schlecht für die
Theorie, wenn sich die Praxis, die ja immer mehr war als nur der Stoff der Theoretiker,
dieser Forderungen entschlägt. Massengesellschaften ohne Bindungsmasse fragen nicht
länger nach Klassen, fragen nicht nach der Inhaberschaft historischer Wahrheit, ja
spotten über die Geschichte, die sich über sich selbst hinausbewegt, wie es nicht einmal
der kühnste Hegelianismus gewagt hätte, dem störrischen Weltgeist vorzuschreiben.
Wird Geschichte obsolet, werden es ihre alten
Ordnungen auch, denn ohne Provenienz wird keiner seine Klasse gegenüber anderen Klassen
beweisen. Heute existieren Adel, schlagende Verbindungen etc. als Reservate einer alten
Welt, werden in den Boulevardpresse von denen hedonistisch goutiert, die hier das
nostalgische Glücksversprechen einer besseren Klasse wähnen, um sich daran zu wärmen,
mitzuleiden, sich in der fernen Klasse selbst zu spüren. Prinzessin Carolines Lieben und
Leiden wird zum Gegenstand medialer Fernempathie. Bunte Blätter schaffen illusionäre
Transiträume zwischen echten Titelträgern und Zaunkönigen, die sich im Hochglanzformat
fremder "Klassenräume" ergehen.
Der Niedergang der Zeichen
Die Mentalität der symbolisch abgesicherten
Klassendifferenzen hielt spätmodernen Lebenseinrichtungen nicht stand. Spätmoderne
Gesellschaften verloren mit den Begriffen auch die Zeichen gesicherter Klassifikation.
Zwar werden hartnäckig Warenzeichen zu narzisstischen Auszeichnungen ihrer Träger
erkoren. Aber hier gehts um die Identifikationsrestposten für Persönlichkeiten, die ihre
Einzigartigkeit im kollektiven Zugriff auf die Inkunabeln des Lifestyle so wenig unter
Beweis stellen, wie sie es hartnäckig behaupten. Die neue "Mercedes-E-Klasse"
verkündet folgerichtig: "Entwicklung der Persönlichkeit". Die Persönlichkeit
des Autos ist die des Automobilisten, der weniger automobil als Teil des Produkts wird.
Hier feiert sich die Corporate Identity von Produzenten und Konsumenten im Zeichen der
mobilen Ware. Aber wenn auch die Könige des Verbrechens Staatskarossen fahren dürfen,
dann mischen sich die Klassen von Neu- und Altreichen, ohne noch länger auf Traditionen
zurückzugreifen. Identität wird ab jetzt zur Kaufentscheidung und niemand nimmt die
neuen Persönlichkeiten für mehr als das "branding", das sie sich gerade
leisten können. Eine Klasse für sich will jeder sein, mithin ist es keine Klasse mehr,
sondern das Eingeständnis einer klassenlosen Klasse Einzelner. Stirners "Der Einzige
und sein Eigentum" war nie mehr als eine kleinbürgerliche Mikroanarchie, die sich
heutzutage narzisstisch-flüchtige Symbole aneignet, um nicht vor Gott und Gesellschaft
mit leeren Händen darzustehen. "Hier stehe ich und kann auch anders" mag der
narzisstische Grundsatz derer lauten, die den Lifestyle als Identitätsmode ihrer Klasse
behandeln. Die Garderobe wird zwar nicht mehr am Eingang abgegeben, aber verkümmert zum
Restposten klassenloser Persönlichkeiten im Ausverkauf der Werte. Vorbei die Zeiten, wo
sich Bürgerfrauen Strafe zuzogen, weil sie sich die modischen Privilegien des Adels auf
den Leib schneidern liessen, um sich im flüchtigen Glück mit der fremden Klasse zu
mischen.
Lifestyle, Kommunikations- und
Bequemlichkeitstechnologien avancieren in immer rasanteren Tempo zur Mischkultur
fröhlicher Weltaneignung jenseits von alten Klassenidentitäten, jenseits der
Distinktion eines gefestigten Klassenbewusstseins, das schon je wusste, wo die eigene Welt
endet und der Horizont der anderen beginnt. So wie World-Music, Love-Parade und Rap den
Mix als neue Form der Formlosigkeit inaugurierten, schütteln sich Gesellschaften wie
Schneegestöber, mischen die alten Distinktionszeichen in promisken Erlebnismilieus.
Biedermeier liiert sich etwa in den Wohnungen der Spät-68er mit Ikea zum kosmopolitischen
Weltseelchen, das seine Muffigkeit hinter der vorgeblichen Freiheit des "anything
goes" versteckt: Patch-work, nicht nur in der Welt der Kategorien, sondern als
Konstruktionsprinzip der neuen Unzeitgenossen. Die neuen Selbstkonstruktionen haben indes
alle dieselbe Konfektionsgröße, wenn sie mit der Elle des zoon politikon vermessen
würden. War es früher über Klassenschranken hinweg ehrenvoll, fürs Vaterland zu
sterben, so ist es heute ehrenvoll, ohne diese Tugend zu leben und stattdessen ein
aufrechter Verfassungspatriot zu sein.
Zuvor glaubte man noch, sich in Basisdifferenzen
über die gesellschaftlichen Verhältnisse streiten zu können: Wohlfahrtsstaat versus
Liberalismus, Sozialstaat versus Rechtsstaat etc. Die Überformung solcher Standpunkte zu
einem Konzept der gerechten Demokratie beschreibt längst nicht mehr Frontlinien, die zu
aufgeklärten Klassenstandpunkten geschmiedet werden könnten. Mit der Codierung
"links/rechts" brachen auch die Wege der Demokratie in Klassen der mehr billig
oder mehr gerecht Denkenden ab. Heute schlängeln sich streitarme Demokraten auf ihrem Weg
in die Konkursgesellschaft, in der es zuletzt nur noch Klassen von Gläubigern und
Schuldnern geben mag.
Neue Klassen
In der neuen Buntscheckigkeit des Sozialen ziehen
sich die Klassengrenzen zwar weniger markant als zuvor durch den
"Gesellschaftskörper", aber Klassifikationssysteme versagen auch gegenüber
"gemischten Klassen" nicht völlig. Neue Klassenregimenter gründen auf Geld,
Wissen und Funktionen. Die äußeren Distinktionszeichen dieser Klassen verlangen näheres
Hinsehen, wenn sie denn überhaupt noch vorhanden sind: "Nenn mir deinen Schneider
und ich sag dir, wer du bist" reicht nicht mehr aus, um die Milliardäre von Silicon
Valley zu erkennen. Die feinen Unterschiede werden umso stärker vernachlässigt, je
weniger Zugehörigkeiten zu konsistenten Klassen reklamiert werden können. Distinktion
ist selbst eine distinktive Kategorie, so könnte man mit autologischer Ironie
formulieren, und ihre letzte Distinktion ist ihre Auflösung.
Formen aufdringlicher Abgrenzung verfallen
gesellschaftlicher Ächtung, gelten als Atavismus der dümmsten Art. Der diskrete Scharm
der Bourgeoisie, die sich längst nicht mehr so nennt und auch von Soziologen mit
Systemkategorien entstigmatisiert wurde, versteckt sich hinter dem aufgeklärten Zynismus
der Unerkennbarkeit. Der gesellschaftliche Sündenfall des alten Klassengeists ist jetzt
törichten Verlautbarungen vorbehalten, die unsichtbare Konturen mit breitem Wachsstift
nachziehen. So löste Karl Lagerfelds Protest im Angesicht mitfliegender Behinderte in der
"Businessclass" Proteste gegen die Blasiertheit des unnahbaren
Lifestyle-Dogmatikers aus. Prêt-à-porter ja, aber nicht für unschöne Menschen, die in
den Augen der Haut couture kein Daseinsrecht haben. Die Businessclass derer von Lagerfeld
und visa card will unter sich bleiben, doch sie ist so wenig Klasse so wenig Kreditkarten
eine geistige Macht begründen, die nach Ortega y Gasset das Merkmal jeder Herrschaft
begründen. Ortega y Gassets Herrschaftsbegriff mag seit je eine Schönfärbung von
Herrschaft gewesen sein, die auf Geburt und Herkunft insistierte. Doch hätten die
Proteste gegen des Feingeistschneiders Protest nicht der Gesellschaft gelten müssen, die
solche "Unfälle" sozialer Begegnung der dritten Art in ihrem alltäglichen
Vollzug regelmäßig vermeidet? Arenal ist der Klasse der Kampftrinker vorbehalten,
während Claudia Schiffer auf derselben Insel zur leisure-class gehört, die da Hof hält,
wo nur noch die paparazzi hingelangen.
Clash of classes
Der "clash of cultures" findet entgegen
Samuel P. Huntington nicht statt, wenn Kulturen über die Klassen, Massen und Maßen
hinaus so mobil werden wollen, dass auch die Starrheit ihrer Ideologien nicht vor den
Errungenschaften fremder Zivilisation Halt macht. Ölscheichs und westliche Yuppies
verfügen über die nämlichen Kommunikationstechnologien, weil sich die Geister und
Klassen selten scheiden, wenn es um das greifbarste Glücksversprechen geht: Die
Verfügbarkeit der Welt aus dem Geist allgegenwärtiger Technologie. Keine Zeit für
Klassendistinktion, wenn der Ruf des Geldes ertönt. Produkte transzendieren
Klassengrenzen, sind so promiskuitiv, wie es die Lebenswelt ihrer Konsumenten erfordert.
In der Abstraktion von Massenprodukten, die für namenlose Käufer gefertigt werden,
verbirgt sich das Versprechen demokratischen Gebrauchs, auch wenn ökonomische
Zugangsschranken dieses Versprechen längst nicht jedem erfüllen. Die hedonistische
Klasse derer, die konsumieren wollen, kennt keine Klassenressentiments außer jenen, die
sich gegen die Verweigerer fröhlichen Konsums richten. So kommt es nicht von ungefähr,
dass der globale Kapitalismus zwar ökonomische Ausschlussfunktionen kennt, sie aber
seinem klassenlosen Zugriff auf die Seelen aller Konsumenten widerstreben. Coca-Cola ruft
immer wieder vollmundig: "Konsumenten aller Länder vereinigt euch." Das ist
aber zuletzt ein Appell zum kollektiven Ausgang aus der selbstverschulden Unmündigkeit,
sondern die Vereinigung zum individuellen Genuss, der alle gleich gnädig treffen soll.
Die Engführung von Demokratie, Gleichheit,
Technologie und kollektiven Konsumbedingungen hat mehr zur Auflösung tradierter Klassen
beigetragen, als es Aufklärungen über die wahre soziale Natur des Menschengeschlechts,
Gesellschaftsvertragsfantasien oder revolutionäre Rundumschläge gegen
Klassengesellschaften je vermochten. Zwar hat sich gegen die klassenübergreifende
Welterschließung auch spät Weltflucht als rechte Lebensweise anempfohlen. Geht Westlern
die turbokapitalistische Puste aus, so versichern sie sich des einfachen Lebens, suchen
die Diätetik einer besseren Moral. Der Buddha wurde zu einem Doppelagenten des einfachen
Lebens saturierter Westmenschen. Aber das bleiben Arabesken einer weltflüchtigen Moral,
kurzlebige Gegenwelten einer medialen Reizkultur, die den Glauben an die Verfügbarkeit
der Welt erst recht bestätigen.
So werden die heiligen Räume, die
nichtpassierbaren Soziotope, die Schutzzonen des Adels von Fleisch und Geist immer
stärker bedrängt, ihren vermeintlichen Mehrwert allen zu geben. So erobern sich
Menschen, die früher der Kanaille zugeschlagen wurden, Räume, die zuvor keine Zugänge
besaßen. Waren etwa die Institutionen bildungsbürgerlicher Kultur, Opern, Museen,
Theater, exklusive Orte der Kulturverhinderung für viele, sind heute ihre Statthalter zum
ehesten darum besorgt, ihre Schwellenangst vor der Schwellenangst derer da draußen
abzubauen. Das funktioniert zwar nur bedingt, weil die Entprivilegierung angestaubter
Kultur nicht reicht, eine Attraktion zu sein, aber Eintritt mag sich jeder verschaffen, so
weit Kreditkarte und öffentliche Subventionen reichen.
Klassenlose Transitivität muss in einer Kultur,
die globale Welterschließung zum Fetisch machte, selbstverständlich werden. So hat etwa
der imperiale Tourismus seine Geschichte von den frühen Kavaliersreisen, die nur wenigen
vorbehalten waren, bis hin zum wohlfeilen Exotismus für jedermann zurückgelegt und keine
heilige Stätte dieser Welt bleibt unerstiegen, wenn Service und Logis stimmen.
"Kolonialismus light" schleift zwar die Unterschiede der Welterschließer nicht
völlig ab, macht aber klar, dass der Geist der Distinktion, wenn es denn je einer war,
sich nicht länger auf Herkunft und Zugehörigkeit bescheiden kann. Nun ist die Welt nicht
verfügbarer, als es ökonomische Unterschiede verfügen, und ein Bauernhaus in der
Toscana garantiert zuletzt die Vereinigung von Bürgern und Bauern unter der klassenlose
Sonne arkadischer Landschaften.
Vom "fliegenden Klassenzimmer"
zur Klassenbildung neuer Bildungsklassen
Auch Bildungsbarrieren als
Welterschließungsgrenzen werden in der Selbstanmaßung egalitärer Demokratien so
gepflegt, wie es entkräftete Sozialhaushalte vorgeben. Amerika oder Großbritannien sind
auf dem schlechtesten Wege, die allgemeinen Errungenschaften der Volksbildung zu Gunsten
privilegierter Privaterziehungen aufzugeben: Vom Klassenzimmer geradewegs in die Klasse
der Besserverdienenden. War die allgemeine Bildung ehedem die Speerspitze gegen den
Feudalismus, der sich dem Druck der Aufklärung nicht erfolgreich widersetzen konnte, wird
nun Bildung zum Privileg von Gesellschaften, deren verfassungsgemäßes Selbstverständnis
zwar keine Privilegien kennen darf, sie aber gleichwohl ausbildet.
Aber auch das Privileg der Bildungsklassen und
Funktionseliten ist selbst gefährdet, in immer rasanteren Halbwertszeiten zu verfallen.
Auch hier ist unwahrscheinlich, dass Gesellschaften aus Parias und Privilegierten im
Zeichen des Wissens sich dauerhaft differenzieren. Was heute gilt, gilt morgen nicht mehr,
so sehr auch die Illusion lebenslanger Weiterbildung im Konflikt mit den ontogenetischen
Grenzen des Wachstums hartnäckig gepflegt wird. Wissen als Herrschaftskapital schreibt
seine eigene Dialektik von Informationsgesellschaften, die immer mehr wissen, und ihren
Protagonisten, die immer weniger wissen. Aristoteles, Humboldt, Leibniz, Goethe
repräsentieren keine tauglichen Selbstentwürfe des Individuums mehr, das sich an die
Spitze des kollektiven Wissens seiner Zeit setzt, um an der Front der Geschichte den
Weltgeist aufzusatteln. Welcher Poet wagte der Quantenmechanik zu widersprechen, maßte
sich Goethes Selbstherrlichkeit an, auch noch über die Farbenlehre zu urteilen, wenn die
Physik der Poesie über elf und mehr Dimensionen den Zutritt in den Kreis der Auguren
verwehrt?
Beklagte man zuvor die soziale Atomisierung von
Gesellschaften, so wäre heute mit mehr Recht von der kognitiven Zertrümmerung des
Einzelnen zu reden, während das kollektive Wissen sich in immer komplexeren Erkenntnissen
aufgipfelt. Danach sind auch die politischen Programme, die alte Bildungsideale von einer
Bildungsklassengesellschaft zurückfordern, selbst fragil gegenüber einem Wissen, das dem
Einzelnen nicht mehr verfügbar ist. Die kognitive Aufrüstung der Zukunftsgesellschaft
mag am Menschen vorbeigehen, während die Verfügung über Wissen sich feudalen
Konditionen wieder annähert. Mag man der Technologie auch nicht den Geist der Kultur
zurechnen, sie zum selbstlosen Instrument erklären, so ist ihr der Mensch doch so
verfallen, wie es drastisch der Siegeszug der Computer auch in den Welten zeigt, die sich
dem reinen Geist verschreiben. Der digitale Personalcomputer, der weniger persönlich als
hochabstrakt ist, kennt nur zwei Klassen von Zeichen, deren Diskretion das Geheimnis
seines Gelingens ist: I/0. Und diese Klassenherrschaft seiner Zeichen versteckt ihr
"arcanum" hinter den Funktionen, die jedermann beherrschen soll, aber längst
nicht jeder verstehen kann. So wird auch nicht die Technologie freigesprochen, in ihrer
praktischen Konvertierung der Naturgesetze ohne soziale Gesetze zu existieren. Hier ist
die Klasse der Auguren von der Klasse des Fußvolks der "user" getrennt.
Epilog
Spätmoderne Klassen sind mithin diffus,
fluktuieren und pulsieren in realen und virtuellen Räumen. Diesen Klassen fehlen die
Fähnlein und Standarten, die Rittersporen und Hoheitszeichen. Ihre Vermischungen sind
Verkehrsgesetze einer transitiven Gesellschaft, in der jeder vom Millionär zum
Tellerwäscher oder umgekehrt - werden darf. Der Begriff der Klasse hat sich aus
seiner traditionellen Fassung gelöst und wird zum fluktuierenden Objekt von Soziologen,
die lieber von "Milieus" als von "Klassen" sprechen. Aber der
Erkenntnisrahmen ist mindestens so brüchig wie die Klassen selbst. Den klassenlosen
Klassengesellschaften kam der Gedanke abhanden, dass Kultur der Ordnung oder dem Konflikt
der Klassen liiert ist. Aber weiter gehend wurden nicht nur Klassen als diskrete Größen
einer indiskreten Herrschaft obsolet. Gesellschaft selbst wurde zum Anathema der Politik,
die nur noch melioristische Vokabeln umwälzt, während die ökonomischen Deckungsmassen
schwinden. Postulierte noch der Altkanzler Erhardt aus dem Selbstvertrauen einer jungen
Konjunktur "Wohlstand für alle", lautet die heute unausgesprochene Formel, die
zum ehesten als Rentenformel gelten möchte: "Überleben für alle".
Gesellschaften haben in ihrer Selbstbeobachtung blinde Flecken, die zu ihrer
Selbsterhaltung notwendig sind. Diskriminierung, Benachteiligungen deformieren zur
Restgröße von Gesellschaften, die stets das Beste aller Mitglieder will. So wird der
Gesellschaftsvertrag zum klassenlosen Gesellschaftsspiel ausgewürfelt. Es bleibt nicht
mehr als eine Gesellschaft, die sich nicht selbst beschreiben kann. Der alte Klassenhass
wird zur personalen Attitüde Unverbesserlicher heruntergefahren, obwohl zumindest die
Unversöhnlichkeit von Strukturen zu kritisieren wäre, die in ihren kategoriearmen
Vexierspielen den wahren Zustand solcher Verhältnisse verbergen, die nicht mehr
Verhältnisse genannt werden dürfen. Ideologien mögen das Rüstzeug des Teufels sein,
aber was sind postideologische Freiheiten, die den Blick auf die Unterschiede nicht mehr
wahrnehmen dürfen? Die ideologischen Wahrnehmungshoheiten alter Klassenstandpunkte werden
gegen die Diffusität einer müden Theorie und ihrer lebensweltlichen Ausläufer einer
ubiquitären Kommunikations-, Spaß- und Erlebnisgesellschaft eingetauscht. Und keine
Instanz ist in Sicht, die sich der verlorenen Sprache der Kritik an Klassen, ihren
Überresten, Neubildungen und Vermischungen annehmen möchte.
Goedart Palm
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