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Paradoxien der Organisation

"Organisation" hat sich aus dem Grau von Aktenstaub und Ärmelschonern, Schreibmaschinen und Büromäusen zum Modethema mikroelektronisch beherrschbarer Unternehmen und Verwaltungen emanzipiert. Telematische Medien gelten als neue Erfolgsgaranten öffentlichen wie wirtschaftlichen Handelns. Tele-Kooperation, Tele-Präsenz, Tele-Kommerz beherrschen geschwindigkeitsberauschte globale Märkte.

Aber längst haben sich fundamentale Paradoxien in den Glauben an die digital verbundene Welt eingeschlichen: 1. Rasender Stillstand wird zur menschlichen Grundbefindlichkeit (1). 2. Räumliche Dezentralisierung von Unternehmen und Verwaltungen stößt auf Zentralisierung der Informationen. 3. Selbstorganisation pendelt zwischen positivem Chaos und unkontrollierter Anarchie. 4. Computer reduzieren klassischen Bürokratismus und produzieren zugleich hypertroph Daten. 5. Der Informationstransfer wächst, aber der "Datenklau" geht um. 6. Märkte werden global, aber die Chancen kleiner und kleinster Unternehmen wachsen(2).

Das neue Organisationsparadigma

Der historische Blick auf soziale, politische, ökonomische oder kulturelle Entwicklungen präsentiert einen immer schneller werdenden Prozess organisatorischer Durchdringung aller Lebensbereiche. Max Weber hat die Bürokratisierung als das wesentliche Rationalisierungsphänomen moderner Gesellschaften beschrieben. In der Abstraktion von menschlichen Eigenschaften richten sich Organisationen auf zweckrationale Aufgabenerfüllungen. Diese klassische Analyse moderner Wirtschaftsgesellschaften verfeinerte sich zu einem Konzept funktionaler Differenzierungen gesellschaftlicher Subsysteme der Wirtschaft, des Rechts und der Kultur. Es entstehen selbstbezügliche Entscheidungsmuster mit eigenen Systemlogiken. Bürger verstehen immer weniger, was in Verwaltungen und Unternehmen abläuft.

Biologische Prozesse wurden zum grundlegenden Paradigma einer Vielzahl von Organisationslehren. Systemtheorie, radikaler Konstruktivismus, Soziokybernetik und politische Kybernetik haben ihre Ansätze geschlossener Systeme paradigmatisch auf die Selbstreproduktion lebender Organismen gestützt (3). Der Gehirnaufbau gilt als der fundamentale Organisationstypus, obwohl Gehirnforschung und Künstliche-Intelligenz-Forschung noch zu keinem umfassenden Verständnis hirnphysiologischer Abläufe gelangt sind. Schlagwörter wie "brain-trust", "think-tank", "Autopoiesis" oder "strukurelle Kopplung" belegen enthusiastische, oft aber vorschnelle Übertragungen biologischer Organisationsmuster auf soziale Modelle. Einigkeit besteht darin, dass das das mechanistische Maschinenmodell, das einer instrumentellen Vernunft verschrieben war, nicht mehr zum Verständnis moderner Gesellschaften ausreicht. Der Glaube an totale Planbarkeit und strategische Beherrschbarkeit lässt sich in komplexen Umwelten in der Tat nicht länger einlösen. Im Tempo digitaltechnologischer Entwicklungen werden Unternehmensmoloche, fabrikmäßige Massenproduktionen und bürokratische Verwaltungstraditionen zu gefährdeten Restposten der zweiten industriellen Revolution.

Vom Chaos der Ordnung

Ziel der Organisation ist es traditionell, Unordnung in Ordnung zu überführen, menschliche Fähigkeiten synergetisch zu bündeln, Produktivität durch personale und technologische Kontexte zu steigern. Die wissenschaftliche Betriebsführung Frederick Winslow Taylors wollte Organisation und System an die erste Stelle treten lassen, um Chaos, Eigensinn und Verschwendung menschlicher Ressourcen zu minimieren. Der Mensch sollte ein motivational gesteuertes Rädchen in arbeitsteilig strukturierten Produktionsabläufen werden. Das Unternehmen dagegen avancierte zum neuen Handlungssubjekt. Auch wenn die inzwischen selbst stark angefochtene human-relations-Bewegung die Inhumanität dieses Konzepts kritisierte, bleibt der Taylorismus - veredelt durch die Prinzipien moderner Mitarbeiterführung und telekommunikativer Aufrüstungen - auch heute noch ein implizites Ideal vieler funktional-strategisch handelnder Organisationen. Die Beschwörungen synergetischer Potenziale, des Chaosmanagements oder evolutionären Managements haben diese Basis nicht erfolgreich verdrängt (4). Den neuen Organisationsphilosophien fehlen konkrete Organisationskonzepte, Unterscheidungen zwischen positivem und negativem Chaos und branchenspezifische Differenzierungen. Software-Herstellung wirft andere Organisationsfragen auf als Automobilproduktion. Letztlich handelt es sich bei den modernen Remedien, die in Managementseminaren mit viel heißer Luft angeboten werden, um Korrektive des traditionellen Taylorismus. Subentscheidungssysteme, Arbeitsteiligkeit und Reduktion menschlichen Eigensinns lösen sich aber auch in einer globalisierten Welt nicht auf. Menschen ziehen mit den neuen Technologien nicht in das Schlaraffenland totaler Bedürfnisbefriedigung. Trotz der Zauberformel "Komplexitätsreduktion" reiben sich gegensätzliche Werthaltungen und Identitätsbedürfnisse nach wie vor an den bestehenden Organisationsstrukturen (5).

Dem biologistischen Mythos der Selbstbezüglichkeit ist ein anderes Großsystem der Organisation verbunden: Sprache. Sprache ist ein Rückkoppelungssystem, das permanent eigene Konstruktionen mit fremden abgleichen, verarbeiten und sich reproduzieren muss. Organisation kann als ein System erfolgreicher Sprechakte verstanden werden. Empirisch werden Zusammenhänge zwischen der Zahl erfolgreicher Kommunikationen und Organisationsfunktionen behauptet. Die Struktur der Sprache zeichnet sich neben anderen Elementen durch ihre erfolgs- und verständigungsorientierte Diskursivität aus. Gleichwohl lässt sich Organisation nicht als gelungenes "Sprachkunstwerk" beschreiben. Mit dem Wildwuchs digitaler Kommunikationstypen reduziert sich zugleich der sprachliche Gehalt von Kommunikation. Mit neuen Technologien ist keineswegs - wie oft versprochen - die Arbeitsteilung aufgehoben worden. Chaos, Frustration über mangelhafte Technikbewältigung und Kommunikationsstörungen wurden zum Büroalltag. Die Angst vor dem Systemabsturz wird zum Damoklesschwert computergesteuerter Organisationen (6).

In den Fährnissen telematischer Prägung von Betrieben und öffentlicher Verwaltung lösen sich traditionelle Strukturen auf. Mittleres Management und menschliche Ansprechpartner für den Außenkontakt mit Kunden verlieren in informationsgesteuerten Zusammenhängen an Bedeutung. Tendenziell werden Produktionssystem und Arbeitssystem entkoppelt. Das klassische Betriebsgefüge mit lokal gebundenen Kooperationen löst sich auf. Der Risikosoziologe Beck spricht von einer organisationskonzeptuellen Experimentierphase, deren Verlauf offen ist (7). Danach greifen neue Gestaltungsspielräume in das klassische Betriebsparadigma, die Ordnung der Produktionssektoren und das Vorverständnis der Produktion als Massenproduktion ein. Mikroelektronisch gesteuerte Rationalisierungsschübe lassen dezentralisierte Unternehmenseinheiten mit selbstkoordinierten Funktionszuweisungen entstehen. Kontrolle läuft nicht länger über menschliche Kommandobrücken, sondern über computergesteuerte Programme. Die traditionellen Ordnungsgefüge werden durch digitale Informationsordnungen ersetzt. Herrschaft über Information wird in innerbetrieblichen Auseinandersetzungen, aber vor allem im Wettbewerb zum beherrschenden Faktor des hektischen Time-Managements. Mit der räumlichen Dezentralisierung von relativ autonomen Betriebseinheiten verbindet sich die Zentralisation von Funktionen auf der Informationsebene. Hierarchische Großbürokratien werden zu Fossilien, die sich zwanglos in das Museum für organisatorische Frühgeschichte einordnen. Mit dem Ausbau vollautomatischer Produktionsweisen werden zudem Produktspezialisierungen erwartet, die nicht länger dem Ideal der Massenproduktion folgen.

Organisationsrisiken

Organisation profiliert sich auf der Grundlage des (tele)kommunikativen Standards von Unternehmen. Die Zahl erfolgreicher Kommunikationen gibt Aufschluss über die Effizienz einer Organisation. Organisationen stehen aber nicht nur mit ihrer Umwelt in Kontakt, sondern zunächst - abhängig von ihrem Autonomiestatus - mit sich selbst. So existieren zwischen Unternehmensniederlassungen private Netzwerke (Corporate Networks), ohne die keine sinnvolle (Selbst)Organisation mehr denkbar wäre. Die Transnationalität von Unternehmen schafft in immensem Ausmaß weit reichende Anforderungen an die Tele-Koordination von Abteilungen und Mitarbeitern (8). Mit dem Eintritt der Unternehmen in das digitale Zeitalter beginnt eine kommunikative Selbstorganisation, deren Ausmaß nicht annäherungsweise einschätzbar ist. Kommunikation wird zum Fetisch und Minenfeld der neuen Organisationen. Aber Fälle häufen sich, dass Hacker mit simplen Anfragen große Löcher in fremde Netze reißen. Tele-Organisation wird zum Datenschutzproblem. Die Kommunikationsfreudigkeit der Unternehmen wird zum Risikopotenzial.

Großbürokratien mit hierarchischen Leitungsfunktionen werden zu Gunsten von dezentralen Entscheidungsebenen mit regen Informationstransfer untereinander abgelöst. Informationsverwaltung und -politik der Unternehmen besitzen danach Schlüsselcharakter für das Verständnis wirtschaftlicher Prozesse, aber auch für Missbrauch durch Konkurrenten. Die Geschlossenheit von Organisationen wird abgebaut. Die Ränder der Unternehmen werden unscharf. Es bilden sich Strukturen, die mit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verfassung nicht mehr deckungsgleich sind. Der Raum virtueller Verfassungen überlagert traditionelle Verfestigungen, die sich von Hierarchien lösen.

Manager: Die neuen Zauberlehrlinge

Modernes Management ist zur strapazierten Schnittstelle von Organisation und Menschenführung geworden. Während in klassischen Zeiten prosperierenden Wachstums die Zuordnung von Unternehmenszielen und -strukturen relativ präzise möglich war, rätselt das Management inzwischen oft schon darüber, welche Produkte hergestellt werden sollen und welche Technologien dem zuzuordnen sind. Die Mikroelektronik greift in die vormals so ehernen Kategorien betrieblicher Organisation ein, weil technische Sachzwänge als Organisationsvorgaben verschwinden. Programmierungen der Unternehmensstrukturen müssen a priori entwickelt werden und sind nicht länger Resultate naturwüchsiger Entwicklungen. Progressive Organisationstheorien stellen hohe Anforderungen an das Management der Zukunft. Manager werden als "Helden des Chaos" gefeiert und sind doch oft nur Prügelknaben der Unternehmen. Managern werden synergetische Leistungsfähigkeit, visionäre Energien, ja spirituelle Eigenschaften abverlangt, um fraktale Unternehmen zu begreifen. Kinetisches Management, Management by Love, Soft-Management, Change-Management oder evolutionäres Management sind neue Modeformen, die zentrale, bürokratische und vertikale Unternehmensstrukturen ablösen sollen (9). Die euphorischen Programme selbst ernannter Gurus zielen auf umfassende Ausbeutung kreativer Ressourcen. Dabei produzieren die Trendberater oft einen Teil des Chaos, dessen Steuerung sie versprechen. Trendberater stellen sich als das postmoderne Orakel vor, das im Gegensatz zu seinem antiken Vorgänger indes völlig unverbindlich bleibt. Manager werden zu Trendgläubigen einer neuen "Unternehmensmetaphysik" oder Selbstzweiflern einer nicht hintergehbaren Wirtschaftsrationalität.

In der Euphorie des neuen Managements gilt, dass Organisation einer Vielzahl nicht berechenbarer Faktoren folgt. Das macht die Prognostik so einfach. Aber heteronome Zwecksetzungen sind auch in den Ideen eines "management by love" nicht auszulöschen. Die Versöhnung des Menschen mit der Organisation erledigt sich nicht durch Euphemismen, die Organisationszwecke mit subjektiven Zwecken verwechseln. Selbst auf der Leitungsebene brechen gesellschaftliche Imperative wie Arbeitsrechtsschutz und ökologische Zwänge die Kongruenz von persönlichen Zwecken und Organisationszwecken auf.

Selbstorganisation als neuer Mythos

Unternehmensstrukturen spiegeln gesellschaftliche Strukturen wider. In der Frühzeit der Industrialisierung gab es weder betriebliche Mitbestimmung noch Interessenverbände. Unternehmer waren mehr oder weniger autokratische Entscheidungsinstanzen sternförmig organisierter Hierarchien. Ökonomischer Erfolg basierte auf naturwüchsigen Einzelentscheidungen der Chefetage. Friktionen zwischen dieser Entscheidungsebene, Mitarbeiterinteressen und Wahrnehmungsdefiziten gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen wurden zum Dauerübel der Industriegesellschaften. Als klassischer Unternehmenskonflikt schälte sich der Arbeitskampf zwischen Chefs und Gewerkschaften heraus.

Das aktuelle Verständnis wirtschaftlicher Prozesse hat darauf verwiesen, dass Organisation zugleich Selbstorganisation ist. Diese heuristische Kategorie aus dem Bereich selbstbezüglicher Systeme hat Verwirrungen ausgelöst. Reicht eine beliebige Ansammlung von Menschen und Mitteln, die sich zu einem gemeinsamen Zweck treffen aus, dass sich eine Struktur selbst organisiert? So ist etwa das Internet keine Organisation, hat keine Organisation und bewegt sich doch. Der Heinzelmännchen-Mythos aus der Schatzkiste kognitiver Biologen und neuronaler Netzwerktechniker suggeriert die Selbstverfertigung der Organisation im Reich der Zwecke. Solange soziale Systeme wie biologische Organismen kategorisiert werden, verbinden sich mit der Selbstorganisation uneinlösbare Hoffnungen. Im Unternehmensbereich zeigen Kooperationsmodelle über betriebliche und nationale Grenzen hinaus, dass "invariante Selbstreproduktion" kein tragfähiges Modell ist, moderne wirtschaftliche Strukturen zu begreifen.

Parkinson hat frühzeitig auf die Aufblähung von Organisationen verwiesen, die erst einmal in Gang gesetzt immer neue Anwendungsfälle für ihre Notwendigkeit finden. Organisationen legitimieren sich durch Handlungen, je aktiver sie sind, umso wichtiger sind sie. So wird etwa der schwerfällige Brüsseler Verwaltungsapparat der Europäischen Union kritisiert, der eine Vielzahl von global zu treffenden Entscheidungen für die Mitgliedsländer kompatibilisieren muss.

Gegenüber der Kritik der Hypertrophie von Organisationen ist aber deren Ausbildung in Subsysteme, die der Zerlegung von Zwecken, der Ausbildung neuer Zwecke etc. dienen, hervorzuheben. Eine menschliche Organisation unterscheidet sich von einem Ameisenhaufen durch immer komplexere Funktionen mit entsprechenden Problemlösungskapazitäten und Rationalitätsschüben. Moderne Großunternehmen lösen sich aus der ökonomischen Monokultur des Gründungsunternehmens und erschließen sich neue Produktionsbereiche.

Die Elastizität von Betriebsorganisationen beurteilt sich nach der Fähigkeit, die Rückkoppelung außerorganisatorischer Handlungsanforderungen in einer fließenden Struktur zu verarbeiten. Mit der Autonomie entstehen Sperren gegen fremdgesetzliche Systemlogiken. Vereinfacht gesprochen entwickelt eine Organisation ein autonomes Handlungsprofil, das nur bedingt durchlässig für fremde Zielsetzungen ist. Die strikte Differenzierung von System/Umwelt-Relationen ist dagegen fragwürdig. Nach Luhmann sind gesellschaftliche Subsysteme autopoietisch konstruiert: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft seien selbstbezüglich operierende Systeme, die nur ihrer eigenen Systemlogik gehorchen (10). Beck kennzeichnet diese funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Systeme als "organisierte Unverantwortlichkeit", die gesamtgesellschaftliche Risiken in den Unternehmen und Verwaltungen nicht wahrnimmt (11).

Münch hat demgegenüber zu Recht darauf verwiesen, dass eine unorganisierte Allverantwortlichkeit in diesen gesellschaftlichen Subsystem zu beobachten sei (12). Die Lehre aus der Problemüberfrachtung der Betriebe kann nur eine politisch zu lösende Ausbildung neu institutionalisierter Verantwortlichkeiten sein. So sind die ökologischen Anforderungen an die Wirtschaft inzwischen durch neue Verantwortungszuschreibungen in erheblichem Umfang gestiegen. Mit dem Tempo technologischer Risikoentwicklungen werden an die Absorptionseigenschaften einer Organisation Anforderungen gestellt, die nicht mehr allein von ihr zu lösen sind. Es bleibt dabei, dass Komplexitätssteigerungen angemessenere Lösungen bereithalten sollen, aber nicht die Komplexität der Welt vollständig ausloten können (13). Autonome Organisationen, die nur in ihrer Währung zurückzahlen, was zuvor die Gesellschaft in fremder Münze eingeworfen hat, setzen sich permanent dem Risiko aus, den Zug der Zeit zu verpassen. Wie Dinosauriern droht ihnen der Artentod auf Grund von Wahrnehmungsschwächen gegenüber ihrer Umwelt.

Auch im Bereich öffentlicher Organisation wird die Aktualisierung von neuen Zwecksetzungen zur Überlebensfrage. Als Erben klassischer Verwaltungsorganisation werden konservative Organisationsprinzipien beibehalten. Die Justiz ist das traurige Paradebeispiel für eine Organisation, die zu kollabieren droht. Die Privatisierungsdiskussion hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung ist nur vor dem Hintergrund schwerfälliger Verwaltungsmoloche erklärbar, die mit viel Aufwand geringe Effizienz verbinden. Eigenverantwortung, Enthierarchisierung, Entpolitisierung, Staatsferne, Abschottung grundrechtlicher Freiheitsräume, größere Flexibilität im Dienst-, Besoldungs- und Haushaltsrecht gelten als Privatisierungsvorteile, obwohl auch Private mit immensen Problemen zu kämpfen haben.

Kybern-Ethik 

Organisation ist mehr als die Strukturierung von Individuen und Mittel. Sie avanciert zum Handlungssubjekt. In dessen Eigengesetzlichkeit liegt aber zugleich die Schwachstelle, dass sich Entscheidungen aus menschlichen Verantwortungen lösen und abstrakte Verantwortungshierarchien entstehen. Die ethische Instanz des Gewissens wird durch Organisationen ersetzt, deren Gefahrenwahrnehmungspotenzial fragil bleibt. Gefahren werden oft bis zur Unkenntlichkeit ihres Risikogehalts verwaltet. Kennzeichnend werden blinder Entscheidungseifer und Selbstberuhigungsformeln, die sich von einer fluktuierenden Wirklichkeit verabschieden. Permanent werden Entscheidungen getroffen, ohne deren wirklichkeitsnahe Programmierung zu überprüfen. In einer Gesellschaft, die Katastrophenstimmung verordnet, werden Tschernobyl, Brent Spar oder Regenwald zu Ikonen des hässlichen Unternehmens, das angeblich auf die Umwelt pfeift.

Störungen entstehen zugleich auch auf subjektiver Ebene. Mobbing gehört zu den kontraproduktiven Faktoren moderner Organisation. Mobbing gedeiht auf dem Humus geschlossener Systeme, die sich im Gegensatz zu ihrer Umwelt definieren. Es entstehen Frontstellungen zwischen Mitarbeitern und ganzen Abteilungen, die durch innerorganisatorische Logiken geprägt sind. Schon frühzeitig plädierte das Human-Relations-Konzept für die Amelioristik menschlicher Beziehungen. Der Taylorismus hatte zwar gewaltige Erfolge in der Produktivität zu verzeichnen. Störungen, menschliches Versagen etc. konnte ein rigide praktizierter Taylorismus aber nicht bewältigen. Jede Organisationstheorie, die allein auf die Rationalisierbarkeit von Arbeitsabläufen vertraut, verkürzt Problemstellungen um den menschlichen Faktor. So werden motivationale und psychologische Momente zu bestimmenden Momenten moderner Unternehmensorganisation. Organisation hat sich aus ihren naturwüchsigen Anfängen befreit. Teilefertigung, Fließbänder und ähnliche Fertigungsverfahren sind zwar ablauftechnisch hoch rational strukturiert. Die Reduktion des Menschen auf eine Funktion als irrationales Betriebselement führt aber zu Störfällen. In Unternehmen und öffentlicher Verwaltung werden daher Rufe nach eigendynamischen und eigenverantwortlichen Mitarbeitern laut. Der homo bürocratius ist nicht länger gesellschaftsfähig. Organisation muss die Stellung des Menschen im Unternehmenskosmos achten. Japanische Unternehmen haben die für euroamerikanische Verhältnisse typischen zweckrationalen Bürokratien durch lebensweltliche Bezüge aufgebrochen. Familienähnliche Industriebetriebe funktionieren paternalistisch. Arbeitsalltag und Freizeit fließen ineinander (14). Den japanischen Großclans werden ökonomische Effizienzsteigerungen zugerechnet, die mit der Differenzierung von System und Lebenswelt nicht länger erreichbar sind. Einer Übernahme des "betrieblichen Familienmodells" stehen vor dem Hintergrund europäischer Mentalitäten aber unüberwindliche Sperren entgegen.

Von der Hierarchie zur Heterarchie

Ohne die neuen Medien wird der heute mögliche Rationalitätsstandard moderner Betriebsführung verfehlt. Zugleich enteignet aber die Digitalisierung der Planung schleichend Unternehmensleitungen. Auch im führungsintensiven Bereich des Militärs wird die Enteignung des Menschen aus der Entscheidungsverantwortung beobachtet (15). Generäle beklagen ihre Bedeutungslosigkeit gegenüber digital berechneten Entscheidungsgrundlagen, die nur noch den deklaratorischen Vollzug der "Entscheidung" eröffnen.

Der angemessene Organisationstypus ist nur entscheidungsbezogen zu beantworten. Soweit lediglich die Koordination von Entscheidungen erwartet wird, bleiben hierarchische Systeme effizient. Bei schwierigen Problemstellungen haben Sozialexperimente erwiesen, dass zirkuläre Organisationsstrukturen ein höheres Maß an Effizienz besitzen. Der geringere Autoritätsdruck und die Verteilung des Entscheidungsproblems auf verschiedene Instanzen stellt solche Systeme als belastbarer dar. Stichwort: Heterarchie. Warren McCulloch, der "Entdecker" dieser Systemstruktur, hat ein berühmtes Beispiel für die Umwandlung einer Hierarchie in eine Heterarchie in der Seeschlacht bei den Midway-Inseln gefunden. Nachdem das amerikanische Flaggschiff frühzeitig von der japanischen Flotte versenkt worden war, war die Flotte auf wechselnde Kommandostellen angewiesen. Zum Befehlshaber der Flotte avancierte der jeweils aus der besten Perspektive das Schlachtgeschehen beobachtende Kapitän. Die Verteilung und Dezentralisation der Verantwortung erwies sich als erfolgreich. Die japanische Flotte wurde geschlagen (16).

Gleichwohl ist solches Kriegsglück kein Vorbild für moderne Unternehmensführung. Rückkoppelungsgeschwindigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit entscheiden über betriebliche Effizienz. Je mehr Transferzeit für Informationen und Übermittlungsverluste entstehen, umso reduzierter sind Anpassungs- und Überlebensmöglichkeiten (17). Die Problemlösung ergibt sich nicht vorderhand aus der simplen Differenzierung von Hierarchie und Heterarchie. So kann ein autoritär strukturiertes System ohne Entscheidungsbeteiligung von Mitarbeiterstäben prinzipiell schneller handeln. Zugleich aber benötigt es mehr Transferzeit von der Basis zur Spitze und ist zudem fehleranfälliger, weil Probleme Komplexitätsverluste erleiden.

Organisationen bleiben letztlich fehlerbehaftete Experimente, in einer Welt ständig wachsender Komplexität komplexere Entscheidungen treffen zu müssen. Die beobachteten Paradoxien können weder durch den Glauben an eindeutige Zweck-Mittel-Analysen, rational-strategische Allbeherrschbarkeit noch durch künstliche Intelligenzen oder gar postmoderne Orakel neuer Trendpriester behoben werden. Solange sich wirtschaftlicher Erfolg nicht auf organisatorische Rezepte reduzieren lässt, bleibt der Wettbewerb spannend.

Goedart Palm

 

Anmerkungen

(1) Paul Virilio, Rasender Stillstand, München 1992.

(2) John Naisbitt, Global Paradox, Düsseldorf 1994.

(3) Vgl. etwa den "Klassiker" Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 2. Auflage, Braunschweig 1985. Einflussreich für die Diskussion in Deutschland vgl. Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt 1987. Instruktiv Friedrich Cramer, Chaos und Ordnung, Main u.a. 1993.

(4) Gerd Gerken, Manager - die Helden des Chaos, Düsseldorf, u.a. 1992, S. 270 stellt fest: "Das Credo des neuen Feelings lautet: "Nonsens ist die Wahrheit...Wahrheit ist Nonsens." Das sollte zur Abschreckung gegenüber solchen "Theorieansätzen" ausreichen.

(5) Systemgläubiger dagegen Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968, S. 340 f.

(6) Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18.Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 1989.

(7) Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M 1986, S. 345 ff.

(8) Gerhard Schub von Bossiazky, Vom vernetzten zum virtuellen Unternehmen, in: Kursbuch Neue Medien (Hrsg. Stefan Bollmann), Mannheim 1995, S. 280 ff.

(9) Gerd Gerken, aa0. Vgl. auch Matthias Horx, Trendbuch 2. Megatrends der neunziger Jahre, Düsseldorf u.a.1995.

(10) Grundlegend Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1984.

(11) Ulrich Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M 1988.

(12) Richard Münch, Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt/M, 1991.

(13) Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968, S.341.

(14) Axel Honneth, Desintegration, Frankfurt 1994, S. 51 ff.

(15) Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt/M 1978, S. 313 ff.

(16) Heinz von Foerster, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: Wissen und Gewissen, Frankfurt/M 1993, S. 233 ff.

(17) Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik, Freiburg 1969, S. 258 ff.

 

Links

Niklas Luhmann - Politische Soziologie - Revisited von Goedart Palm

Zur Kybern-Ethik und Heinz von Foerster

 

 

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