Manchmal träumt es mir, ich sei SPIEGEL-Redakteur und
müsste das Sommerloch stopfen, aber dieses Loch wird immer größer und größer, bis es
sich auf über schreckliche 3.640 qkm ausgedehnt hat. Schon scheint jede Möglichkeit, es
zu stopfen, vertan, imaginäre Schweißperlen treten mir auf die Stirn - da auf einmal
erscheint dieses mächtige Stück Land, just in dieser Größe und mit kongruenten
Rändern, da machts "plopp": Es gibt kein Sommerloch mehr. Stattdessen Mallorca,
das siebzehnte Bundesland, das alle Journalistenschreibqualen bis zur nächsten
Schreibhemmung besänftigt. Von Proll-Arenal über Sangriaeimer zu nackten Oberbayern, von
Claudia Schiffers über Boris Beckers zu Goldie Hawns Anwesen, vom aufrechten Kampf der
Mallorquiner über hooliganeske Briten zum insektoiden Teutoneneinfall. Nun könnte das
kein Traum sein, sondern ein weiterer Anwendungsfall, wie man trotz fehlender Klimaanlage
in der Hölle des Sommers Satan mit Beelzebub austreibt. Der Kampf der mallorquinischen
Asterix und Obelix gegen den deutschen "Kolonialismus light" hat ungefähr den
Frischegrad eines unterm Kinositz klebenden Kaugummis, der auf seine ältesten Tage hin
recycelt wird. Auch die, die nicht regelmäßig die wichtigsten Abfallhalden der
Sommer-Presse nach Lesbarem durchsuchen, hätten diesen Titel vermutlich aus dem
fernsehgeschädigten Kurzzeitgedächtnis schreiben können. Wie konnte es so weit kommen,
dass "das deutsche Nachrichtenmagazin" sich zur Hinterhut der deutschen
Sommerlochkolporteure selbsterniedrigt? "Die Welt ist alles,
was der SPIEGEL ist", hätte doch zuvor eine vorwitzige Medienphilosophie behauptet,
die noch an die Spiegelbildlichkeit der Welt auf Zeitschriftenseiten glaubt. Zur Reise um
die ganze Welt auf 80 und noch viel mehr Seiten entscheidet sich der SPIEGEL immer wieder
montags, wenn Mensch und Welt ausgeruht haben, um alltägliche Katastrophenlangweiler,
hochviskose Weltpolitik oder dumpfe Provinzialität zu ertragen, aber auch durch die
flachesten Sümpfe der besseren Gesellschaft zu waten. Montag ist SPIEGEL-Tag, wenn man
sich nicht für Focus entscheidet. Nun gibt es gute Gründe, sich gegen "Fakten,
Fakten, Fakten" zu entscheiden, weil uns wohlfeile Fakten ohne jeden kognitiven Mehr-
und Nährwert inzwischen an jeder Ecke auflauern, ohne dass deren Verkäufer schon glauben
sollten, wir würden in ihre Klingelbeutel auch noch Münzen einwerfen. Hinzu kommen
Markworts telegen gewährte Einsichten in seine schwarzweißen Redaktionsitzungen, deren
aufgeregter bis leserserviler Selbststilisierung nicht jeder ästhetisch gewachsen ist.
Die offene bis schleichende Assimilierung der beiden Magazine ist indes
vermutlich nicht abgeschlossen, sodass die weitere "Faktifizierung" des SPIEGEL
mit Fünf-Minuten-Terrinen für den kleinen Wissenshunger zwischendurch bevorstehen mag.
Die SPIEGEL-Welt im seriösen Schwarzweiß wich jedenfalls dem augenreizenden Farbanstrich
der Erlebnisgesellschaft, den "Ich-sag-dir-alles-oder-nichts-Statistiken" und
bunt eingesprenkelten Kolumnen, die auch dem fastfood-Leser den Miniaturkick der Lektüre
vermitteln, wenn er schon nicht wirklich lesen will. Und wer will noch lesen, wenn er
surfen kann? Es war eine fiese Unterstellung der taz, die neuen semisatirischen Kolumnen
sollten von unredigierten in´s Augstein gehenden Texten ablenken. Jeder weiß doch
längst: Rubriken rüsten für das Überleben. Der gnadenlose Kampf gegen Lesers
Abwanderung ist das pressedarwinisische Gesetz des Blätterdschungels und des STERNs
schwindende Tittenseligkeit vermutlich der Grund für nachlassende Titelerfolge. Der
SPIEGEL verkauft dagegen keine "Fuckten" als Fakten oder Ganzkörperansichten,
sondern Kompletteinsichten in die ach so hintergründige Welt. Aber auch hier regiert und
redigiert längst die vordergründige Angst vor untreuen Lesern, deren mutmaßlichen
Interessen auch solche Journalisten hinterherschreiben, die sich so gerieren, als seien
sie rasende Reporter, Arm in Arm mit dem schamlosen Genossen "Trend", der so
kopulationsfreudig ist, wie es sich nur eine promiske Weltgesellschaft vorstellen mag. Und
da der Trend nun mal die globale Erlebnisgesellschaft liebt, schwimmen
SPIEGEL-Unterwasserarchäologen zu den "Pyramiden der Tiefsee" weil der
versunkene Schatz der spanischen Armada allemal erlebnisintensiver, ja gefühlsechter ist,
als noch länger auf Hinterbänken des Parlaments hinter dem Allerleigrau von rhetorischen
Springmäusen und anderem politischen Getier herzujagen.
Innenpolitische Themen, das weiß inzwischen selbst der SPIEGEL, sind
keine "Bringer" mehr. Wer interessiert sich schon für Stoibers Pirouetten um
die Kanzlerkandidatur, wenns um die Aufklärung geht, dass Robin Hood schwul war. Bei
Batman´s Robin haben wir es ja immer vermutet. Aber der gute Grüne? Entscheidend ist dabei
nicht die vordergründige Frage, ob Gayhood je gelebt hat, sondern die hintergründig zu
vertiefende, ob Jungfer Marian eine blieb, weil Robin am anderen Ufer rammelte. So rammelt
man sich durchs Sommerloch, aber den flüchtigen Zeitgeist kriegt man mit fehlgeleiteten
Spermato-Zoten so wenig in den Griff wie mit den aus dem Weltall dauerhaft ins Feuilleton
exportierten "Schwarzen Löchern". Die dauerstaatsverdrossene Jugend bevorzugt
statt "dem deutschem Nachrichtenmagazin" diese oder jene oder welche
Stadtmagazine, wenn sie denn überhaupt noch ihre monitorkonditionierten Augen auf den
Königsweg lesender Welterschließung schickt. Bei den youngsters hat der SPIEGEL keinen
Schlag mehr, während noch in den politikgläubigen 70ern der juvenile Massenexodus aus
der elternverschuldeten Unmündigkeit mit dem SPIEGLEIN in der Hand begann und im
kleinbürgerlichen Chaos der Wohngemeinschaft endete. Schon stellt sich die Frage, ob
nicht Politiker zu Unrecht für die epidemische Politikverdrossenheit von
Nachwuchsdemokraten gescholten werden, wenn Demokratie zuvörderst ihr Presseimage ist. So
wie der DAX nicht den Wert von Unternehmen objektiviert, sondern die Glaubensmasse der
Aktionäre repräsentiert, so gibt es keine Demokratie, die ihr eigenes Bild je
transzendierte.
Und unseren Politikern kann man keine Vorwürfe machen. Sie bemühen
sich nicht nur redlich, ihr Bemühungen redlich erscheinen zu lassen, sondern sie handeln
auch unentwegt redlich. Politik ist zuvörderst die Kunst, dieses Handeln als nicht
zufällig erscheinen zu lassen. Je komplexer die Verhältnisse sind, umso schwieriger ist
das und wir werden niemanden um seine Rhetorik der Vereinfachung beneiden. "Die
Renten sind sicher" gilt so prinzipiell wie weiland Radio Eriwans Feststellungen.
Keiner wird von der Geschichte bestraft, wenn er zu spät kommt, sondern wenn er die
reifen Früchte nicht rechtzeitig im eigenen Körbchen auffängt, um sie schleunigst zu
Markte zu tragen. So mutiert die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse zur selbstgefälligen
res publica. Trotz hartnäckigstem diskursivem Dauerfeuer verstand es etwa der
alert-behäbige Altkanzler, die Wiedervereinigung als Frucht seiner Richtlinienkompetenz
zu pflücken. Im Windschatten der Geschichte blieben dagegen jene Kritiker stehen, die
vorgeblich nicht begreifen wollten, dass es keinen schnelleren Weg in die
Geschichtsbücher gibt, obzwar die morgen vermutlich ohnehin niemand mehr aufblättert.
Wie läppisch nimmt sich gegenüber solchen Großtaten kalkulierter
Geschichtsannektion etwa die Reduzierung eines überschuldeten Staatshaushalts aus?
Kärnerarbeit ist für die Blöden, politische Genies repräsentieren die Geschichte ihrer
Zeit, in dem sie sich selbst repräsentieren. Die zupackende Passivität von Politikern
stiftet aber das Interesse des Publikums nur, wenn die immer freie Presse das
nachinszeniert, was noch lange nicht stattgefunden haben muss. Sollte sich der
schreckliche Verdacht bestätigen, dass die Politik nie besser war als heute, aber die
Presse in Zeiten medialen Umbruchs nie schlechter, die Politik ins rechte, meinetwegen
auch linke Bild zu setzen? Hätten wir eine politikeuphorische Jugend, wenn das selbst
ernannte "Sturmgeschütz der Demokratie", also der SPIEGEL, es noch besser
verstünde, den Krieg um die schwindende Aufmerksamkeit fürs Gemeinwesen glorioser zu
führen?
Da ohnehin niemand mehr so genau weiß, was Politik über die Gunst des
Zufalls hinaus ist, aber jeder gerne über sie redet, sind Gespräche, zumal in indirekten
Demokratien, der beste Ausweis politischer Teilhabe. Der SPIEGEL hat daraus eine
Gesprächsphilosophie gemacht, die indes keine Mitredner, sondern Leser benötigt, die
mit fünf Mark sind sie dabei - den Status von Eingeweihten im Wochentakt erhalten.
Wie funktioniert das? Am besten in der SelbstbeSPIEGELung der strahlenden Redaktoren und
schnellen Brüter derer von Augstein, Aust et alii, wenn sie weise lächelnd die
Arbeitszimmer der Mächtigen betreten und uns, die wir auch ohne ausdrückliches
Hinweisschild draußen bleiben müssen, klar machen, dass SPIEGEL-Wissen aus dieser Quelle
kommt, aus der die Welt trinkt. Die prickelnden Fotos der machtvollen Vermählung von
Presse und Politik sind des SPIEGEL stärkste Selbstinszenierung. Das tête-à-tête von
Herrschaft und Berichterstattern gibt uns nicht nur den Glauben, dass die freie Presse
ihrer Aufgabe demokratischer Aufklärung in eben dem Maße nachkommt, in dem es eine
transparente Demokratie zulässt. Hier gehts um weit mehr. Wenn sich die Delegationen
gegenübersitzen, um die Weltlage ins Lot der Leser zu bringen, wird die Aura politischer
Macht vom SPIEGEL reflektiert, bis die Unterschiede zwischen den Gesichtern der Machttypen
diffus werden. Die "balance of powers" zwischen Presse und Politik lässt auch
die vorgeblich Mächtigen dieser Erde um die Gunst des SPIEGLEINS an der Wand buhlen.
"Wer ist der Mächtigste in diesem Land?" ist eine rhetorische Frage, die der
SPIEGEL mit seiner Existenz beantwortet: durch seine Geschichte der Entlarvungen,
Demontagen und mitunter dem anschließenden Wiederaufbau von Personen und Persönchen des
öffentlichen Lebens. So suggeriert der SPIEGEL nicht nur seit Jahrzehnten seine
moralische Kompetenz in der Kritik politischer Verhältnisse, sondern er exekutiert auch
eine öffentliche Moral, für die er eine einsame Definitionskompetenz besitzt. Manch
einer wurde mit Posten und Portefeuille exekutiert. Der SPIEGEL hat an seiner Moral seit
Anbeginn gearbeitet. Nicht nur lebenslänglicher Enthüllungsjournalismus und die
Durchpflügung des braunsten Bodensatzes deutscher Geschichte haben das erreicht. Auch der
rückhaltlose Selbsteinsatz in den moralischen Krisengebieten der Republik schuf den Ruf
des SPIEGEL. Es gab nie ein besseres Christophoruserlebnis für die Proselyten einer
aufrechten Presse als Augsteins berühmter Einzug in die U-Haft, die endgültig die
Gegenmacht des SPIEGEL in der Republik begründete. Kein Wunder also, dass das Foto auch
heute noch als Dauerikone fröhliche Urständ im Heft feiert. Weder der gebildete Strauß
noch gar der 500-Wort-Kanzler-Adenauer wussten, dass man einen Voltaire nicht einsperrt.
Freilich war das nicht nur der Beweis Augsteins, das Zeug zum Märtyrer zu haben, wenn es
der demokratischen Wahrheitsfindung dient. Zu diesen Zeiten war die Macht noch so naiv,
die freie Presse, Metternich sei´s geklagt, durch Verfolgung groß zu machen, anstatt sie
so lange mit Informationen zu füttern, bis es selbst dem hungrigsten Leser sauer
aufstößt. Zensur macht stark. Wer für sein Journalistencredo freier Berichterstattung
im Kerker schmachtet, kann nach den Geschichtserfahrungen dieses Landes doch kein
Vaterlandsverräter sein. Inzwischen sitzt der SPIEGEL selbst zu Tisch der Mächtigen oder
zu Gericht über sie und welcher Staatsanwalt wäre in den SPIEGEL-Dekaden ohne Anregungen
für seine Haftbefehlsanträge geblieben.
Bevor es aber richtig moralisch bis unheimlich inquisitorisch wird, muss
es menscheln. Die Vollausleuchtung von Lebenswelten intimisiert die Politik wider den
Glauben an ihre Intransparenz, vor der uns dreimalige Bekreuzigung und SPIEGEL-Lesen im
Abonnement bewahren möchte. So erging sich der SPIEGEL weiland in heimeligen
Ofengeschichten um das harmonische Familienleben der Schröders, dass es keinem Angst und
Bange werde, wenn ein Ex-Juso mit Demo-Erfahrung das
"Wir-sind-wieder-wer-Deutschland" regiere. Selbst das "Goldene Blatt"
wäre auf so viel mitteilungswürdiges Familienglück stolz gewesen Hillury sprach
sich gar im Übermut der Umfrageergebnisse selbstbewusst politische Kompetenz zu, so wenig
diese auch je gefragt war. Na ja, für dieses oder jenes Ressort hätte es ja auch
vielleicht gereicht, wenngleich Gerd monierte, nicht immer richtig bekocht worden zu sein.
Und Liebe geht halt durch den Magen. Dann aber kam das schnöde Ende, da mächtige Männer
nun mal jüngere Weiber brauchen, weil ohne staatlich verliehene Insignien die Krone nur
so richtig glänzen will. Nach der für teilnehmende Leser überraschenden Trennung wurden
wir vom SPIEGEL mit dem wertvollen Wissen allein gelassen, dass es selbst ohne - das
amerikanischen Verhältnissen abgelistete - Dream-Team Hillu & Gerd in der Republik
weitergeht. Das wussten Ignoranten zwar schon immer, weil der Begriff dieses Wissens von
der Art ist, die schon Brecht kritisierte, dass Regen nun mal von oben kommt. Es wäre
aber ungerecht, den alten Vorwurf zu erheben, dass hier Politik zum Feuilleton gemacht
wird, da wir doch beim Feuilleton erheblich mehr Kultur voraussetzen, als breitgetretener
Quark behaupten kann, solche bereits zu sein. Gleichwohl reduziert sich der SPIEGEL selten
auf Hofberichtserstattung, sondern reflektiert nomen est omen den selbst
produzierten Klatsch als solchen. So wird Brigitte Seebacher-Brandts Liasion mit Big
Hilmar Kopper zum Anwendungsfall, über die Entstehung von Trivialmythologien
nachzudenken, ohne den eigenen Beitrag dazu zu dementieren. Diese Reflektionstechnik
bietet den doppelten Vorteil, den ungefilterten Klatsch mit seiner kritischen Aufbereitung
sogleich zu neutralisieren. Kolportage und ihre Kritik produzieren mithin eine
aufgeklärte SPIEGEL-Mythologie, die des Lesers Lust an Groschengeschichten und sein
schlechtes Gewissen über diese Lust gleichermaßen bedient. Im Mantel der Selbstkritik
legitimiert sich das affirmative Weltbild des SPIEGEL am geschickesten, um vorschnelle
Kritiker auf die Plätze zu verweisen. "SPIEGEL-Journalisten wissen mehr", weil
sie jederzeit sagen dürfen: "Hier stehe ich und kann auch anders."
Politiker sind dem Credo des SPIEGEL nach also Menschen. Schwer zu
entscheiden, ob das beruhigt oder beunruhigt, wo doch einige von uns zu hoffen wagten,
Politiker wären hartnäckige Fiktionen der Presse, um beider Daseinsrecht zu garantieren.
In Zeiten einer Europäischen Union, deren demokratische Transparenz etwa von der Art
eines Briketts ist, den man nur auf Diamantgröße zusammenpressen müsste, um schon
durchzublicken, konzentriert sich der Wähler auf die "dramatis personae". Ist
schon Politik hauptverdächtig, lediglich dramaturgisch wirken zu wollen, wird der SPIEGEL
zum getreuesten Korrepetitor der allfälligen Welturaufführungen. In der Hamburger
Dramaturgie wird die von Murray Edelmann denunzierte Politik des Symbolischen, die längst
den Glauben an die Objektivierbarkeit ihres Handelns verloren hat, zum Journalistenalltag.
SPIEGEL-Interviews sind die einsame Hochform des "living-theater" und am Tag des
jüngsten Pressegerichts wird auch dieses Beweismaterial als corpus delicti auf dem
göttlichen Richtertisch liegen und die Waagschale alsbald gefährlich ausschlagen. Leider
liegen keine Statistiken vor, wie viel gesprochen und wie viel mehr von den
Gesprächsteilnehmern zur Perfektion des nichtgesprochenen Worts später hinzu- und
wegverfügt wurde. Das spielt auch keine Rolle, weil das Gespräch als demokratische Form,
dem Verfassungspatrioten Habermas sei tausend Dank, jeden Demokraten besticht. Nun dürfen
wir nicht fragen, warum diesem Schlächter oder jenem afrikanischen Oberpriester nicht die
rote Tinte ins Gesicht gespritzt wird, wenn doch deren Lügen so gerinnen, wie das Blut,
das sie verspritzen. Das Toleranzverdikt des SPIEGEL gebietet, auch da fair zu bleiben, wo
die anderen es schon lange nicht mehr sind, weil sonst die Gefahr bestünde, dass
künftige Diktatoren keine Gespräche mehr gewähren. Aber der voreingenommene Leser kann
sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einsame Herrscher und polygame Popstars zumindest
die eigensinnige Gemeinsamkeit aufweisen, sich die Fragen, die sie nicht beantworten,
vorher vorlegen zu lassen, um das nicht zu sagen, was ohnehin jeder weiß. Mit einem Satz:
Ich jedenfalls wünsche diese Interviews nicht mehr zu lesen.
So aber will es der SPIEGEL: Auf deutschem Boden soll niemals mehr ein
Gerücht untergehen, weil es den Schlüssel zum Verstehen vertricktrackter Verhältnisse
bergen könnte. Politik findet im innersten Tempelbereich statt, allein der SPIEGEL dringt
hier endoskopisch bis medi-zynisch ein. Danach ist die Politik nicht aus eigenem Willen
transparent, sondern muss erst transparent gemacht werden. Kleinste Zeichen mögen die
Haarrisse anzeigen, die demnächst politische Architekturen und Säulenheilige
einzustürzen lassen. Selbst das Wissen von Papierkörben, außergewöhnlich gut
unterrichteten Reinigungskräften, leutseligen Sekretärinnen wird mit dem
Datenstaubsauger inhaliert, um es zum Mosaik der Macht werden zu lassen. Dabei wird
offensichtlich Isaac Bashevis Singers Wissen, dass ein Papierkorb der beste Freund eines
Schreibers sei, von SPIEGEL-Rechercheuren seines Ursprungssinns beraubt. Zwischen
investitivem Scheckbuchjournalismus und investigativem Offenbarungsjournalismus hat sich
der SPIEGEL, dem das Portefeuille längst nicht mehr locker sitzt, seitdem er nicht mehr
gerade über wachsende Gewinne klagen kann, für die eilige Offenbarung entschieden.
Dressierte SPIEGEL-Leser schaukeln auf der Schulter jener
Informationsriesen, die mit beiden Beinen tief im SPIEGEL-Archiv stehen, weil das die
einzige Erdung ist, die auch da noch Wissen hervorquillen lässt, wo andere Zeitzeugen nur
noch fürbass erstaunt sind. Vielleicht würde ja "mehr Wissen" nichts anderes
als "weniger Wissen" bedeuten, würden die black boxes der Welt nicht zwanghaft
als Montagsoffenbarungen dem Leser entpackt. Da sei der Scheitan vor, dass der SPIEGEL
eingestünde, dass nichts zu wissen ist, wenn man doch so lange weiterschreiben muss, bis
die Annoncen hinter 50 % SPIEGEL-eigener Textmasse verschwinden. Dabei ist das doch kein
Stigma. Allenfalls der unkonditionierte Leser könnte die Anzeigen vorschnell als lästige
Reklame nehmen, Profis veredelt es die allfälligen SPIEGEL-Life-Style-Reportagen mit
kongenialem Bild- und Textmaterial. Hier eifern die Fremdtexter mit den Journalisten um
die Gnade des besten Spruchs oder des sprechendsten Bildes - und wie lässig wird des
SPIEGEL Häme gegen deutsche Volksmusik mit einem von musisch veranlagten Werbegenies an
den Baum gefesselten Heino-Troubadix überboten. Erst wenn eine spätere
Geschichtsschreibung die alberne Unterscheidung zwischen redaktionellem Teil und Anzeigen
als antiquiertes Paradigma zeitgenössischen Aberglaubens zur Seite legt, wird die
soziokulturelle Potenz des SPIEGEL richtig begriffen werden. Bis dahin aber müssen wir
ihn leider so weiterlesen, wie er verstanden werden will.
Nun hat Magnus-Essay-Enzensberger bereits 1957 dem deutschen
Nachrichtenmagazin vorgeworfen, die Nachricht der Story zu opfern. Ein schrecklicher
Befund, träfe er den Sigmaringer Volksboten oder den Zillertaler Almdudler. Besagt der
Vorwurf doch nichts anderes, als dass die Primärtugenden der Journalisten-Schule,
"wer, was, wann, wo, warum, wie" zu fragen, darauf wahrheitsgemäß und konzise
zu beantworten, der spannenden Story im Stahlnetzfieber des Lesers geopfert werden. Der
SPIEGEL steckt die Vorwürfe des infotainment so lässig weg wie das infotainment die
Nachricht. Nicht nur gilt für Informationsgesellschaften, dass Nachrichten wohlfeil sind,
zudem das wuchernde Internet vor Nachrichten birst, während erst Storys die wandernde
Aufmerksamkeit des Lesers binden helfen. Mehr noch hilft uns aber das gnädige Wissen,
dass jede Nachricht eine andere verdrängt und bereits ihre Auswahl dem Prinzip des
flüchtigen Lesers folgt. Wenn etwa in afrikanischen Ländern die Meuchelrate eine
bestimmte Marke überschreitet und das ubiquitäre Böse wieder seinem Ruf gerecht
geworden ist, sind weitere Opfer keine Nachricht mehr und landen allenfalls in der
Statistik. Während US-Europa die Serben bombardierte, wurden die gleichzeitigen
Bombenangriffe auf den Irak zu belanglosen Mückenstichen heruntergefahren. Jede Nachricht
ist somit nur so gut wie der moralische Grenznutzen, den den Leser zur Rechtfertigung
seines Weltbilds benötigt. Die immunisierende Lektüre in den Zeiten von kollektivem
Rinderwahnsinn und Genozid lebt von den Überbietungen des Schreckens, um sich der eigenen
privilegierten Existenz trotz Steuerbescheid, Promillegrenze und Tempolimit
zu versichern.
Enzensbergers Glauben an die demokratische Redlichkeit, die Dinge beim
Namen zu nennen, ohne der Technik von Suggestionen, Einflüsterungen und narrativen
Spannungsbögen zu erliegen, würde nur dann Heiden in Christen verwandeln, wenn wir nicht
längst ahnen würden, dass die SPIEGEL-Story deshalb die Nachricht ist, weil die
Nachrichten keine sind. Es ist der erstaunlichste Irrglaube, das zoon politicon der
indirekten Demokratie bräuchte all diese Mitteilungen über menschliche Komödien und
Tragödien, um seine Selbstaufklärung zum Wohl des Gemeinwesens zu vollenden. Wer etwa
den Nachweis führen könnte, die vielmäulig abgekaute Lewinsky-Affäre habe sein
politisches Handeln oder wenigstens sein Verhältnis zu Praktikantinnen verändert, möge
aufstehen und bekennen. Es bleibt die größte Fiktion von Demokratien, die
Informationsdichte ins Verhältnis zu einer besseren politischen Praxis zu setzen, wenn
doch das Weiterstochern im Weltelend mindestens ebenso von kerngesunder Ignoranz abhängig
ist.
Dem SPIEGEL-Leser frommts gleichwohl, wenn er zum Bescheidwisser
avanciert. Das eben ist das schönste Versprechen jahrelanger SPIEGEL-Lektüre:
"SPIEGEL-Leser wissen mehr." Die Welt verliert ihren Schock exponenziellen
Datenwuchses, wenn der SPIEGEL die Wissensexplosionen implodieren lässt, bis sie so
handlich werden, dass der Leser sie mit beiden Händen greifen kann. Nun kann das nicht
als Privileg des SPIEGEL gelten, die Welt auf Lesers Leisten zu spannen, aber es ist ein
Privileg des SPIEGEL, sein Weltvereinfachungssystem als Schule der Nation zu inszenieren,
wo andere Plakate kleben, deren Großbuchstaben auch politisch Kurzsichtige befriedigen.
Wenn BILD spricht, ist die Wahrheitsfrage der satirische Mehrwert, den der Leser schöpft,
weil anders dieses Welt-BILD weder Sinn noch Frohsinn zeugt. Mit anderen Worten: BILD ist
seriös, weil jeder weiß, dass BILD nicht seriös sein will.
Zum größten Wunder des Hamburger SPIEGEL-Kabinetts gehört aber, dass
das Publikum nicht über Jahrzehnte ungeduldig geworden ist, den montäglichen Kaffeesatz
der Vorahnung zu schlürfen, wenn ohnehin eine Woche später sich erweist, welcher Aufguss
ihm da vermeidbares Bauchzwicken verursachte. "Yesterday´s papers are yesterday´s
news" brach zwar immer den Stab über Pressewahrheiten ohne Haltbarkeitsdatum, aber
das Prognosefieber der Schnellwisser war noch nicht von dem Virus infiziert, als Erster
durchs Ziel der Weltfrüherkenntnis zu laufen. Der sportive Ehrgeiz des
SPIEGEL-Journalismus liegt in der Bewältigung einiger Tage des Vorwissens, das eben den
praktischen Vorteil bietet, dass auf Grund instantaner Lektüre auch bei anderem Verlauf
der windigen Weltläufte kein Hahn mehr danach kräht. Hier gehts zu wie bei der
Zigeunerin, die als Verfallsform des delphischen Orakels für ihre Prognosen und nicht
für die Wahrheit derselben bezahlt wird. Die SPIEGEL-Magie der Kristallkugel gehört zu
den überflüssigsten Künsten der späten Menschheit, wenn ohnehin ein kleiner Zeitsprung
über den Kugelrand hinaus dieses Wissen tausendfach überholt. So bewahrheitet sich
schnell die Selbstbespiegelung: "Es gibt kein ergiebigeres Nachschlagewerk zur
jüngeren Geschichte als eine SPIEGEL-Sammlung". Man möchte ständig danach schlagen
oder zumindest endgültig glauben, dass wir im Zeitalter der Nachgeschichte leben, in der
nachgeschlagene Geschichte nur noch als Hobby ausgeschriebener Herausgeber tauglich ist.
SPIEGEL-Wissen ist aber noch viel mehr, reicht von Big Bangemann bis zum
Big Bang. Das Amalgam, das hinter den politischen Inszenierungen das Heft anschwellen
lässt, beinhaltet die endgültige Vereinigung von SPIEGEL und Weltseele. Gnadenlos wird
die Weltaufklärung von Satan bis Science totalisiert, sodass auch unser Partygewäsch
autorisiert werde, von Superstringtheorie, Gentechnologie, schwarzen Löchern, Urknall und
allen anderen spätmetaphysischen Künsten zu handeln, ohne je den Glauben an die
Rationalität der Verhältnisse zu verlieren. Nachdem die Universalbildung von der
Geschichte abgeschafft wurde, ist die Aufklärung des SPIEGEL das relative Rüstzeug der
Halbbildung, um den horror vacuui gegenüber der ungespiegelten Vollwelt zu beruhigen. Es
gibt keine Wissenschaft, die dem SPIEGEL-Zugriff trotzte, und wenn die Welt voll Teufel
wär, weil das weder Redaktionsstatut noch der gute Glaube der Leser zulassen. Etwa die
Superstringtheorie ist also keine Gebrauchsanweisung für knappste Bademoden, wie der an
Pamela-Anderson-Screen-Saver geschärfte Blick der Internet-Abuser vermuten möchte,
sondern die Anwartschaft auf die Weltformel. Weltformel! Möchten wir zwar meinen, dass
der SPIEGEL diese immer besaß, aber nur stückweise preisgab, so handelt es sich doch
hier um die spannende Suche nach der mathematischen Gleichung, die die ganze Welt so rund
macht, dass es weder Gott noch der Einzelwissenschaften bedarf, sie zu verstehen. Mit
anderen Worten: Lässt sich Einsteins hochelegante, wenngleich relativ unverständliche
Relativitätsformel E=mc2, auf den Toilettenwänden der Welt nicht gerade
unterrepräsentiert, noch durch die Totalformel überbieten, die uns alles, aber wirklich
auch alles erklärt? Einfachste Dialektik vermutet zwar, dass der, der alles erklärt,
nichts erklärt, aber die Tage der Dialektik sind nach dem Fall der marxistischen Theorie
ohnehin ausgezählt.
Die SPIEGEL-Welt ist somit alles, was erklärt werden kann und nur die
Redakteure holen sich für den Leser Beulen, wenn sie an die Mauern der Fachsprachen
laufen. Das macht den Leser mächtiger, als es je die Komplexität der Welt zulassen
würde, wäre da nicht der SPIEGEL. Wenn die vieleckige Welt also kugelrund gespiegelt
wird, sitzt dahinter bestimmt immer ein kluger Kopf, der seine Klugheit an ein
Presseparlando vermittelt, das zuvörderst die Vermittelbarkeit von Welt vermittelt.
Seitdem der SPIEGEL sich längst dem vormals so souverän wie unverbindlich praktizierten
Rechts/Links-Code entfremdet hat, gehts jetzt um die ungeteilte Wahrheit. Sollte der
SPIEGEL nicht mehr kritisch sein? Enzensberger hatte schon 1957 im geschliffensten
Adorno-Jargon seiner frühen Jahre verurteilt: "Eine Kritik, die keinen anderen
Ansatz hat als den imaginären Hebelpunkt einer Skepsis, die vor sich selbst Halt macht,
wird sich stets zur Magd der Ereignisse machen". Toll! Enzensberger meinte also, dass
erst Selbstkritik zur Kritik berechtigte, weil sie sonst nur standpunktlos den Ereignissen
hinterherlaufe. Solche Sätze waren damals so vernichtend, dass ihre Autoren mit dem
Paternoster geradewegs ins Pantheon der großen Essayisten einzogen, will sagen: im
SPIEGEL schreiben durften. Kritik ist heute zuvörderst Restpostenverwaltung
demokratischer Prinzipien. Auch Kritik ist nach dem Zerfall der Ideologien nur noch so gut
wie ihr Unterhaltungswert in einer kapitalen Spaßgesellschaft.
Die wohlfeilste Spielwiese der Kritik ist von alters her das Feuilleton,
weil erst "de gustibus" so recht bis schlecht schwadroniert werden kann, dass
selbst hart gesottene Sprachartisten allen Glanz und noch viel mehr Elend der Sprache
spüren dürfen. Inzwischen sind die Zeiten leider unwiderruflich dahin, dass gefürchtete
Theater- oder Literaturkritiker schnöder Kunst den verdienten Garaus machten. Figuren wie
Alfred Kerr finden in Zeiten des literarisch behäbigen Quartetts und Bestseller-Listen,
die ja nur so wenig übers Lesen sagen, kein Biotop mehr. Wohl kein Zufall, dass
SPIEGEL-EX-Karasek hier mit Mar-th-el Reich Ranicki, leider mitunter von Sigrid
unterbrochen, literarische Idiosynkrasien und lyrische Zimmerpflänzchen bewässern und
die Buchhändler ihren literarischen Spürsinn dadurch konterkarieren, dass sie ihre
Schaufenster eilfertigst am nächsten Morgen mit den Büchern zum kleinen Fernsehspiel
anfüllen.
Selbst der Verriss, den der SPIEGEL angelegentlich beherrscht, ist heute
keiner mehr. Auch der lockt heute noch Leserscharen, weil masochistische Leser auch bereit
sind, zähes Leder zu kau(f)en wenn wenigstens der Autor ein Talent ist. Grass
drüber. Feuilleton heute ist zumeist schlecht kaschierter Lebenszeitdiebstahl. Wer
interessiert sich schon für die Ränkeleien und Rangeleien der Familie Richard Wagners,
wenn er ohnehin kein Bayreuth-Billet ergattern will, weil der Walkürenritt in
"Apocalypse now" seine bellizistische Ästhetik ungleich besser befriedigt? Auch
die Querschnittsausstellungen modern(d)er Kunst verdienen heute selbst dann kein Wort
mehr, wenn Journalisten wider besseres Wissen die Wiederkehr des Immergleichen als letzte
Novität feiern. Wenn das SPIEGEL-Feuilleton so weiter macht, um die Einschlafquote hoch
zu treiben, könnte es bald zu spät sein, dieses Leck der Langeweile zu stopfen. Dass die
Kunst nicht im Saale stattfindet, wird vom Spiegel hartnäckig dementiert. Dieses
Feuilleton tanzt um den goldenen Hornochsen der Hochkunst und keiner, der danach glauben
könnte, Kunst und Kultur hätten noch irgendeine Sprengkraft, den Sturm in den
Cocktail-Gläsern der Vernissagen zu entfachen.
Wir dürfen es uns nicht so einfach machen, den Hohlspiegel für die
gelungenste Abmoderation des Blattes zu nehmen, weil hier garantiert nur Fremdtexte
kompiliert werden. Im Hohlspiegel zieht der SPIEGEL allerdings die Quintessenz, dass im
Gegensatz zum eigenen ein dösiges Lektorat unfreiwillige Satire zu verantworten hat. Der
SPIEGEL-Stil hat zwar Erich Kuby zufolge im Laufe seiner Verwurstung aus Gründen des
Leserservice seine Pointenfreudigkeit verloren, aber in den blatteigenen Textkaskaden
werden unfreiwillige Wellenbrecher deshalb noch lange nicht geduldet. Hier lacht der
SPIEGEL schadenfroh über das Worpsweder Intelligenzblatt und ähnlich herausragende
Publikationen, weil in seinem Reich nicht nur publizistische, sondern auch stilistische,
grammatikalische und orthografische "Correctness" herrschen. Aber diese
Schadenfreude gewähren wir nur kurz, da wir nun gelernt haben, dass der heilige Ernst,
Ironie nur da zu platzieren, wo die menschliche Komödie den Einsatzbefehl gibt, zum
wenigsten ausreicht, sich einen Reim auf die grotesken Verhältnisse zu machen. Die Komik
des SPIEGEL liegt in seinem ultramontanen Glauben, eine Welt spiegeln zu können, die dann
am lautesten lacht, wenn der SPIEGEL sich denselben vorhält, um eine Unendlichkeit zu
erblicken, die jeden Montag wieder neu beginnt.
Goedart Palm |