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© Goedart Palm
Leere Seiten. Jede Identität sträubt sich gegen die Fixierungen des
Gedankenflusses. Schreiben heißt, sich der Wahrheit wegen selbst zu belügen. Oder sollte
die Codierung wahr/falsch falsch sein?
Sprachen. Polyglotte Zeitgenossen hoffen immer auf Wahrheiten, die in den
anderen Sprachen nicht erscheinen wollen - anstatt die Vater/Mutter-Sprache auf ihre
herrlich unvereinbaren Sprachen hin auszuloten. Sprechen wie jeder, sprechen wie Dichter,
Philosophen, sprechen wie ein anderer... sprechen wie keiner. Auch in einer Weltsprache
blieben die privaten Wahrheiten, die unterhintergehbaren Partikularitäten erhalten.
Dichtung. Aphorismen helfen über den Winter des Schreibens hinweg. Wechselstrom
des Textes. Jenseits der Wörter verdichtet sich die Sprachlosigkeit zum Sprachparoxysmus.
Verbindliche Sätze? Wer oder was soll aber noch verbunden werden? Wörter als Mullbinden
für malträtierte Helden. Die Falten im Gesicht der Literatur sind unübersehbar
geworden. Unsere schöne neue Telekommunikation demokratisiert das Geschwätz, aber
liquidiert die Dichtung.
Rund. Warum soll es ein Verrat an der Sprache sein, wenn die Wörter so rund
sind, dass sie einen schlechten Gedanken adeln?
Veni, Video, Valium. Unerträglich, wenn Schriftsteller Sedative, dämpfende
Texturen wie Tinkturen verabreichen, bis sich Übelkeit einstellt. Sprachgewohnheiten und
-gewöhnlichkeiten werden ungeprüft exekutiert. Die Bestseller-Unkultur hat das Schreiben
im ständigen Glücksversprechen desavouiert. Textwagnisse lassen sich in der Urgeduld vom
Papier nicht eingehen. So hat sich Literatur zu einer halbseidenen Angelegenheit
entwickelt, bar einer durchgreifenden Legitimität gegenüber einer zugleich globalen wie
zersplitternden Welt. Unter dem Trauerflor, der so wohlfeil geworden ist, regt sich ein
Lächeln über die selbstgefällige Bescheidung auf das Nichts.
Apokryphe. Textinsel in einem Meer von Lügen.
Riff. Eine Sentenz, die sieben Töne auf dem Griffbrett zu einer Phrase
verknüpft, elegant, so als könnte es nicht anders sein...Wie oft hören wir Musik, die
Sprache werden müsste und doch nicht transformierbar sein soll. Von daher rührt der
Glaube an die Musik als Himmelssprache. Wäre doch nur einer, der sie übersetzen könnte,
dass wir sie nicht nur hören, sondern auch verstehen.
Zeitgeist-Poeten. Dichter hasten durch die Geschichte, alles auflesend was
rechts und links des Weges liegt, last action poet im Supermarkt der Erzählungen, den
Morgen zugebracht mit Mundglockenklang, aber abends in einer billigen Nachtbar versackt.
Die verderblichen Mängel umwanden die Geschichte mit ihrem Flickenmantel...
Brockhaus. Die Brockhaus-Enzyklopädie 2000 von André Heller gestaltet
und "inszeniert" (Verlagsprospekt). Dass der Mensch einen Brockhaus brauche, mag
im Zeitalter elektronischer Medien nicht länger einsehbar sein. Also muss er
"inszeniert" werden: Der Zirkuskünstler Heller gestaltet eine
Einbandgalerie mit 312 Originalfundstücken, Mercedes-Silberpfeil, Tennischläger von Boris
Becker und noch viel mehr -präsentiert in dreidimensionalen Acrylvitrinen,
eingebunden in nigerianischem Ziegenleder - für zweitausend Sammler zum
Vorauszahlungspreis von 18.800 DM. Die Idee ist so grotesk, dass sie auch den Nichtleser
überzeugt. Dieser inszenierte Vitrinen-Brockhaus ist kein armseliges Nachschlagewerk,
sondern soll nach dem Willen des Schöpfers ein Kunstwerk sein, zumindest ist er eine
Sammlung von Trouvaillen, die auf die Karte des Wissens geklebt werden. Wo früher der
Begriff über den Gegenstand regierte, herrscht heute das Objekt. Pure Unmittelbarkeit
gegen blindwütige Monitorisierung des Wissens. In die Geschichtsschreibung und
Wissensverzeichnung wird die Geschichte als Fetisch eingeführt. Reliquien unserer
Zeithöhepunkte, sorgsam verwahrt wie Blut Christi, lignum crucis. Wir wohnen einer
religiösen Handlung bei, Brockhaus hebt die Monstranz, zeigt den Leib dieses
Jahrhunderts, eine Hostie, die wir essen werden, um zu bezeugen, den Zeitgeist in uns zu
haben. Ego te absolvo - "verlieren Sie also keine Zeit" (Verlagsprospekt). Wie
sollte ich Zeit verlieren, wenn ich mir die Geschichte selbst einverleibe?
Bibliophil. Der Goldschnitt der alten Gebetsbücher überzeugte uns vom Wort
Gottes. Wir strichen über die goldene Glätte, die das Wasser für Wein nahm. Wenig zwar
gegen die hochbarocke Gottesherrlichkeit in Oberbayern, aber mehr als die Schnödigkeit
unser paperbacks. Gottes Wort war gediegen, also war es auch sein Buch. Aber Bibliophile
sind Fetischisten, sie vergessen die Person, müssen sie vergessen, um zum Objekt zu
gelangen. Fetischisten machen sich ein Bild, weil ihnen die Wirklichkeit so unheimlich
lebendig ist. So ist Bibliophilie eine Leichenbestattungskunst, die weder das Wort noch
das Fleisch besitzt. Arme Reiche.
Kriterium. Wer die Qualität einer Geschichte einschätzen will, muß nur die
Frage beantworten, ob Figuren aufgedrängt werden. Protagonisten, die nur einen
Tintenkreislauf haben, decouvrieren sich schnell.
Helden. Eine Geschichte ohne Helden schreiben oder geschichtslose Helden
entwerfen.
Ein anderes Ich. Rimbaud wollte durch die Entregelung aller Sinne beim
Unbekannten ankommen. Dagegen: In der Entregelung der Sinne beim Bekannten ankommen. Die
Selbstflüchtigen enden im Nirgendwo, weil das Selbst nicht geflohen werden kann. Im
Unbekannten ist das Selbst nur noch nicht heimisch geworden. Jedes Selbst hat eine
imperialistische Lust, sich überall zu finden. Rimbauds Flucht in unbekannte
Länder verlängerte die Poesie des Fremden mit anderen Mitteln. Aber irgendwann kommt man
im Fremden an. Alles wird Heimat...
Proust. Wollt ihr nicht sehen, dass diese angespitzten Sensorien einem
sadistischen Geist entspringen? Pfählen, Aufspießen, Einschließen. Ein
Schmetterlingssammler im Rattenlaboratorium.
Joseph Roth. Der Untergang der Donaumonarchie im Bild des Kaisers, langsam
wegdämmernd, sprachlos, hoffnungslos. Jede Zeit hat ihre eigene Sprachlosigkeit. Luzide
wirds erst hinterher, wenn analytische Köpfe die fremden Mauern sehen - aber nur so weit,
bis sie an ihre eigenen Mauern stoßen. Eine immerwährendes Spiel, die Evolution der
Einsicht in die Verhältnisse.
Tangenten I. Aus dem Tagebuch des Schriftstellers Heimito von Doderer.
Eigenartig, daß die Vornotiz diese Texte als Quellgrund abwertet, da doch hier wie
zumeist die Ursprünge aufregender als die Resultate sind. Überhaupt ist es nichtssagend,
ob einer seine Elaborate für groß oder klein hält. Schließlich entziehen sich diese
Selbstaussagen jeder Validisierung durch den Autor. Entscheidend ist, wie gut andere
anknüpfen können. Tangenten über die Zeiten. Schreib´mir nicht, wer du bist, das kann
ich allein entscheiden. Andererseits sind die Prätentionen des Autors Verständnishilfen,
die auf die Sache zu beziehen sind.
Tangenten II. Dieses Ungewisse, metaphorisch Schwebende bei gleichzeitiger
Arbeit am Begriff... Metaphern helfen oft das zu verstehen, was noch nicht im Begriff
verstanden werden kann. Annäherungen an Zustände, die gewiß sind, deren Name aber noch
nicht gefunden wurde. Daher fehlt es an Verständlichkeit: Selbstverständigung und
Mitteilung. Aber hat sich die Sprache je anders entwickelt?
Elias Canetti. Zürich ist eine wunderbare Stadt für Schriftsteller. Die
Splitter Canettis sind wichtiger als Masse und Macht. Canetti ist ein
Beispiel für die überschießenden Innentendenzen eines Autors, seinen Stoff nicht nur
literarisch, sondern auch wissenschaftlich zu fassen. Aber hängen wir nicht alle an
Stoffen, die wir zu immer neuen Kleidern verarbeiten wollen? Das Essay gehört zu den
Zwischenformen, die sich nicht festlegen wollen, aber schließlich in der Gesamtausgabe
befriedet werden.
Aneignung. Nicht alle Sätze, die wir schreiben, gehören uns schon deshalb. Die
geistige Aneignung ist immer mehr als das Wissen. Erst wenn das Wissen unser
Bewusstsein
imprägniert, eine Struktur schafft, die nicht mehr verlassen werden kann, besitzen wir
das Wissen, werden zu diesem Wissen. Die meisten Sätze, die wir sprechen, sind lediglich
Markierungen einer Differenz. Wir könnten auch das Gegenteil für richtig halten. Was
liegt dabei am Glauben an die Richtigkeit eines Satzes? Sich auf eine Seite zu schlagen,
ist zumeist naiv. Im Aufbau der Differenzen erweist sich die Kraft eines Denkens, Glauben
ist ein später horror vacui.
Leidmotiv. Jede Zeit hat ihre Leitmotive, denen sie folgt, weil sie sich als
neue Phänomene in der Geschichte präsentieren. Uns ist "Masse und Macht" kein
solches Motiv mehr, heute werden Massen wie Einzelne immer weniger greifbar. Wir reden
inzwischen über Verhältnisse, deren Triebkräfte nicht mehr im Menschen verortet werden
wollen.
Knut Hamsun. Mysterien: Der Protagonist Nagel stirbt an seinem
Antizipationswahn, ihm fehlt jene Gelassenheit, die nicht an Formeln der Beherrschung
glaubt. Auch ihm wird dieser Glaube genommen, aber er macht sich nicht den richtigen Reim
auf die Verhältnisse. Warten können ist die Kunst. Diesem Held fehlt aufgrund seiner
neurotischen Verfassung das Wissen um die Irrwege, die schließlich zum Ziel führen. Er
vermischt die Kraft des Geldes mit romantischen Trugbildern, er setzt sich über
Konventionen und gesellschaftliche Schranken hinweg, ohne zu begreifen, dass die
Kleingesellschaft noch nicht rückhaltlos dem Machtcode "Geld" gehorcht. Ja
selbst er glaubt noch nicht daran, sondern verläßt sich auf "understatement"
und will zugleich doch verführen. In dieser Ambivalenz seines Mediengebrauchs folgen ihm
die Menschen nicht. Ihr Glaube an die Wertordnung ihrer Gesellschaft wankt zwar, aber die
Mittel Nagels reichen nicht aus, diese zusammenbrechen zu lassen.
Ernst Jünger. Ein Sammler und Klassifizierer, der Menschen, Käfer, Situationen
etc. verzeichnet. Alt wird einer nur mit der Lust an der Weltwahrnehmung. Wer sich der
Welt als Kartograph, Aufschreiber, Korrepititor verdingt, hat Aussichten auf Ewigkeit. Jünger
ist ein Geistesverwandter Borges´, der ihn auch in Wilfingen besuchte. Ihr
Unterschied liegt dem Reduktionsmus Borges´gegenüber der kulinarischen Abundanz Jüngers,
letztlich der Unterschied zwischen Dichtkunst als Verdichtung und Erzählung als
Recherche. Die Qualität Jüngers ist sein equilibrium aus Bodenhaftung, Träumen,
Drogen, Entomologie, Expressionismus und Sensibilität. Warum Käfer?
Paul Valery. Wer nach Lebenskunst sucht, findet hier. Poesie ist hier kein
Zweck, sondern ein Mittel. Allein die Selbstverfassung, das Instrument, die Fähigkeiten
zählen.
Mitspieler. Zum Mitspielen gezwungen, ohne den Eindruck zu gewinnen,
dass es dem
Spielemacher sehr auf mich ankäme. Also kann er auch auf meine Solidarität nicht
zählen. Immerhin das ist relative Freiheit. Oder ist es nur eine Täuschung, die zum
Spiel gehört, ja mehr, das Spiel erst zu diesem macht.
Bene captatio volentiae. "Möge der Leser mir nicht zürnen, wenn meine
Prosa nicht das Glück hat, ihm zu gefallen" (Lautreamont). Selbst in
surrealen Höhen und Abgründen denkt man an sein Publikum. Auch hermetische Texte wollen
gelesen sein. Für die Schublade produziert niemand. Gibt es nur Verständigungstexte?
Aber das riecht nach frustrierten Männerzirkeln und selbstgehäkelten Pullovern. Das
coming out ist eine grassierende Obsession: Jede kleine Idiosynkrasie sucht ihren
semantischen Hort. Hermetische Dichtung ist auch nur Prätention gegenüber dem
allgegenwärtigem Publikum.
Berufung. Über den Dächern jenseits der alltäglichen Verantwortung sollen die
anderen nach Brot schreiben, wir schreiben um der Wörter willen. Größte Gefahr: Wörter
verlieren. Plädoyer für Sammler. Eine Kollektion sämtlicher Wörter. Wörterbücher als
die poetischen Sammelstellen der alten Welt.
Moralsemantik. Angestrengter Humanzynismus gegen Herrschaftszynismus. Karl
Kraus führte ziselierte Waffen gegen Grobklotzigkeiten, Gemeinheiten und
Sprachverfall. Kein Zweifel, Kraus benötigte zur Selbsterhaltung einen bestimmten
Typus von Widersacher, der noch an Kultur/Zivilisation glaubend diese hintertreibt - die
offene Antikultur ist nicht mehr durch Präzisionssemantik verwundbar. Heute gibt es keine
Feinlehren mehr, die sich erfolgreich gegen öffentliche Planierdiskurse richten. Selbst
die Wahl der Unwörter des Jahres begleitet keine Gegensemantik, sondern nur das paradoxe
Lächeln über paradoxe Verhältnisse. Vorschlag zur Selbstreflektion: "Unwort"
als Unwort einführen.
Maxime. Wer die Sprache gut behandelt, den wird die Sprache gut behandeln.
Grenzen. Jede Sprache hat ihre Grenzen, die sie fortwährend verletzt, um über
sich hinaus zu wachsen. Je stärker sie von der Lebenspraxis, unmittelbarer Wahrnehmung
abgekoppelt werden kann, desto wahrscheinlicher werden neue Sprachspiele. Aber welchem
Motiv folgt die Sprache, die auch dann noch spricht, wenn sie schwerelos zu schweben
scheint? Unterhält sich die Sprache dann nur noch mit sich selbst? Was hat sie sich zu
erzählen? Sollte die Sprache zuletzt kein Medium, sondern ein Zweck sein?
Plagiat. Sentenzen werden wiedergefunden, kein Bewusstsein besitzt zuverlässige
Indices über die Quellen seines Wissens. Wer viel liest, rekapituliert oft unfreiwillig.
Unwörter. Wörter werden zu Unwörtern, weil ihr Gebrauch den Sachverhalt
flieht. "Betroffenheit" oder "Befindlichkeit" (Vgl. Graf von
Westphalen) sind Eingeständnisse diffuser Beziehungen zu ihren Sachverhalten. Am
schlimmsten, wenngleich ehrlich, ist das Erklärungsanhängsel "irgendwie".
Irgendwie ist alles irgendwie, aber irgendwie verstehen wir das nicht mehr. In der
Denkweise des "Irgendwie" gesteht der Sprecher seine semantische Schwäche. Auch
wenn sich längst keiner mehr von dieser Schwäche freizeichnen kann, gibt es zumindest
den aufrechten Untergang, der seine Hilflosigkeit laut herausbrüllt. Ein nostalgischer
Blick richtet sich auf die altgewordenen Linken, die immer wussten, wo´s langgeht. Diese
gottähnliche Sicherheit, jedes Phänomen im großen Entfremdungsinsektarium
aufzuspießen.
Bestseller. Druckerschwärze wie Fliegendreck auf ihren Manuskripten. Nur
Schreiblust kann keine literarische Legitimation sein: Simmel, Konsalik, Pilcher,
Cartland, Steele etc. Zensur tut not. Vox populi funktioniert nicht. Die
Bestsellerlisten decouvrieren nicht nur das Land der Dichter und Denker, sondern auch die
moralisch Aufrechten. Frau Dönhoff will auf einem der Spitzenplätze der
Verkaufslisten den Kapitalismus zivilisieren. "Jetzt mal ehrlich" - wer hält
solche Naivitäten auf Häkelkränzchenniveau noch aus? Häkelkränzchen als feminine
Variante des bierhubernden Stammtischs. Wickert als praeceptor Germaniae gehört
auch in dieses aufgeblasene Kabinett von moralischen Wichtigtuern, die sich besser ihre
zusammgeklaubten Altbestände um die eigenen taubgehaltenen Ohren gehauen und geschwiegen
hätten. Appell-Literatur für Pharisäer, die Zeit für wohlmeinende Unverbindlichkeiten
haben, während der Rest der Welt weiter verreckt. Mitmachen, aber über
"Verhältnisse" klagen. Längst haben die Konservativen die vormals
linkskritisierten "Verhältnisse" als moralische Unverbindlichkeitskategorie
aufgenommen. Zu Weizsäcker besser kein Wort.
Moral der Literaten. In den 70er Jahren erreichte die Moralisierung der
Literatur ihren vorläufigen Höhepunkt. Literatur und Sozialdemokratie verbündeten sich
gegen vermeintlich konservative Kulturlosigkeit, weil die Kultur nur von
Linksintellektuellen definiert wurde. Böll wurde zum kleinsten gemeinsamen Nenner von
Linken und aufklärungswilligen Bürgern. Die "geistig-moralische" Wende schlug
zurück, richtete sich gegen linke Wortführer und Betroffenheitsapostel. Die
Angewiesenheit beider Positionen auf einander wurde schnell klar, als den Linken der
Erzählstoff ausging und die rechten Seifenblasen mal wieder am eigenen Machtdiskurs
zerplatzten. Die kulturelle Armseligkeit wurde von der politischen überboten, als sich
nicht nur der real existierende Sozialismus verflüchtigte, sondern sich auch linke
Programmatik in immer abenteuerlicheren Varianten des beschädigten Lebens erschöpfte.
Seitdem kann sich der Kapitalismus, der nicht mehr explizit benannt werden darf, nicht
mehr gegen eine feindliche Umwelt definieren. Sollte der Zusammenbruch des Sozialismus
auch den Sprengsatz für die endgültige Auflösung des konturlosen Kapitalismus geliefert
haben oder ist jener der pantheistisch wabernde Weltgeist? Aber wie jeder Weltgeist
zuletzt doch vom Pferd gefallen oder nach St. Helena verbracht wurde, werden auch die
neuen Verhältnisse nicht konservierbar sein. Das "Warten auf Godot" hat
sich zuletzt immer gelohnt, auch wenn der Erwartete andere Namen tragen sollte.
Gleichwohl: Keinem neuen Messianismus das Wort reden.
Rosamunde Pilcher. Also sind Namen doch mehr als Schall und Rauch...
Bouvard und Pecuchet. Zwei Würstchen auf dem kalten Grill der Wissenschaft.
Zuletzt wird ihnen alles unkulinarisch. Der Tod in den Wissenschaften, die zu ernst
genommen werden. Wenn die beiden Donquichoten etwa Pataphysiker, Feyerabend....
beherbergt hätten, wäre vielleicht Aussicht auf Rettung vor der rationalistischen
Unvernunft gewesen. Flaubert, der Idiot der Familie, erzählt eine Geschichte, die
seine geworden wäre, wäre er nicht Flaubert geworden. Literarische alter egos
sind die Entwürfe, die dem Autor entweder erspart oder nicht geschenkt worden sind.
Fiktiver Roman. Nicht jeder Roman wird aufgeschrieben, aber jedes Leben leuchtet
mitunter romanhaft auf. Figurenkonstellationen erscheinen, die mit dem beobachtenden
Protagonisten geheimnisvoll verknüpft sind, Erinnerungen legen sich über Wahrnehmungen
und machen Ungleichzeitiges gleichzeitig. Je älter einer wird, um so romanhafter wird
seine Existenz. Oft würden Skizzen genügen. Die Ausführungen verkleinern oft die
diffusen Retrospektiven, die jedes Hirn durchziehen - es sei denn, man hieße etwa Flaubert.
Die Goncourts. Immer da schlecht, wo es um Meinungen geht, allein als
Vergrößerungsgläser zu gebrauchen.
Roman. Noch im 18. Jahrhundert war der Beruf des Romanschriftstellers unbekannt.
Geschichten, die das Leben schreibt, waren mitteilungs-würdig. Aber fiktive Geschichten
waren tendenziell unanständig, überflüssig, jugendgefährdend. Erst als der Roman seine
sittlichen Qualitäten unter Beweis stellt - etwa "Pamela" - , wird er
salonfähig. Diese Eigenschaften hat er später eingetauscht gegen das pralle Leben, die
Irrungen und Wirrungen der modernen Existenz, bis er schließlich an den Rändern
zerfaserte, seine Zentren verlor. Seitdem herrscht Arbeitsteilung: Die ins hardcover
geschlagene Heftchenkultur reproduziert die geschlossene Form, die Fortführung des
modernen Romans besorgen die Neuen Medien. Das Fernsehen erzählt und erzählt und
erzählt, ohne noch Zentren zu besorgen.
Buchkultur. In der heutigen Buchunkultur sind keine Widerstände mehr zu
erwarten. Demnächst gibt es anstelle von Bücherverbrennungen Vor- und Nachleser, die
ungenießbare Seiten für uns wenden. Nietzsches Befürchtung, daß nach einem
Jahrhundert Leser die Bücher stinken, ist schon überboten. Heute stinken selbst die
Kritiker. "Was ist ein Kritiker? Ein Leser, der Unannehmlichkeiten bereitet", Jules
Renard, "Ideen in Tinte getaucht", heute: ein Leser, der Unannehmlichkeiten
verhindert.
Fluchtpunkte der Literatur. "Werden die ungelesenen Bücher sich rächen?
Werden sie, vernachlässigt, sich weigern, ihm das letzte Geleit zu geben? Werden sie sich
auf die satten, die vielfach gelesenen Bücher stürzen und sie zerfetzen?" (Elias
Canetti, Die Provinz des Menschen). Aber was ist erst mit den ungeschriebenen
Büchern? Werden sie am jüngsten Tag Anklage gegen ihre Väter und Mütter erheben?
Prodromus. Bücherverbrennungen sind unseligerweise aus der Mode gekommen,
seitdem unseren gleichermaßen schreib- wie leseschwachen Gesellschaften die Vorstellung
irreal wurde, der Geist der Literatur könnte aufwiegeln, rebellisch machen, Staat und
Gesellschaft zersetzen. Inzwischen funktioniert die innere Schere so gut, dass sich die
Zensoren zur Ruhe gesetzt haben. Aber nicht nur Selbstzensur, sondern auch der
allgegenwärtige Glaube, dass Papier geduldig ist, hat staatliche Gelüste, Literatur zu
beschneiden, erledigt. Aufruhr und Agitation sind keine Angelegenheit der Literatur mehr.
Nicht die von der Pariser APO 1968 beschworene Phantasie, sondern der Euro kommt an die
Macht und Intellektuelle haben das Biotop fröhlicher Ideologiekritik verlassen. Im
auslaufenden Leitfossil der Epoche, dem Fernsehen, schmücken sich Talk-shows schon lange
nicht mehr mit Literaten, Intellektuellen und anderen Bescheidwissern. Niemand mag
glauben, dass die Ikone der Fernsehpeepunterhaltung Verena Feldbusch oder ihre
redelüsternen Gäste Bücher lesen.
Zensur. Bücher ohne den existenziellen Widerstand der Zensur sind Epiphänomene
des bleichbunten Medienbetriebs geworden, der trotz rezessiver Tendenzen der
Verlagsbranchen und der dümpelnden Genieproduktion den Markt der Leser wie Nichtleser mit
Literaturen überflutet, die keine Notwendigkeit, aber jedes Geschmacksmuster besitzen.
Literatur veränderte sich zum Literaturdesign, das den Erwartungsprofilen von Usern,
nicht von Lesern folgt. Auf der Jagd nach dem Publikum, den Verlegern und anderen Ulanen
des Kulturbetriebs entfesselt sich eine (Text)Materialschlacht der Literaten, die groß-
oder kleinsprecherisch ihren Ruhm in den Marmorfries "ars longa, vita brevis"
einmeißeln, und noch jeder Schriftgewisse seiner selbstverordneten Personenkultminiatur
nachläuft, um schließlich doch nur in einem toten Rennen gunstheischend auf den Knien
vor der Diva des Publikums "prodesse et delectare" zu winseln. Doch die Klage
über den Literaturbetrieb ist nicht nur alt, sondern auch Teil desselben: "Das
unablässige Reden von Literatur, und zwar in der Form des läppischsten Geschwätzes, als
ginge es um das Banalste von der Welt, die ewigen Projekte und Versprechungen, das
Heruntermachen anderer, das Selbstlob und das Anpreisen von Machwerken, die zum Erbarmen
sind: das alles widert mich an" (Leopardi, 1822). Auch wenn wir mit Lust, mit
klammheimlicher Freude den Canossa-Passionen der verzweifelten Literatenseelchen
zusehen, ja gerne noch einen Essigschwamm in die offenen Wunden reiben würden, haben wir
inzwischen alle Blessuren davongetragen, die sich nicht als Stigmata ausgeben lassen.
Abgenetzte Literatur. Literatur ist im Zeitalter medientechnologisch
hochgerüsteter Gesellschaften ein fragiles Kulturressort geworden, das Mühe hat, seinen
"ontologischen" Status zu bewahren, während es zwischen Fernsehen,
Hörkassetten und dem allgegenwärtigen Internet alte Ansprüche verteidigt, die bereits
in relativen Blütezeiten nicht eingelöst wurden. Shakespeare´s gesammelte Werke in der
Zip-Datei zum "downloaden" werden Leseanreize so wenig auslösen, so wenig
hypertrophe Stichwortbildung in außer Rand und Band geratenen Hypertexten Zusammenhänge
schafft. "Wer nicht lesen will, muß speichern", lautet die Devise der
Netzjunkies. Die Links, die das Hüpfen in den Texten zur Selbstverständlichkeit werden
lassen, machen lineare Lektüren überflüssig. Zusammenhänge, die früher durchpflügt
werden mußten, werden für den neuen Hyperleser (= Überleser) zum Fluchtfeld. Der
hermeneutische Zirkel verkommt zum globalen Zirkelschluss, dass die eilig
zusammengerafften Literaturangebote des Netzes bereits Literarizität begründen. Ohnehin
ist das Netz der Text, der keiner ist. Das schon vormals grassierende Halbwissen, das
vornehmlich im enzyklopädischen Bereich zwischen der Oberweite von Pamela Anderson
und dem letzten Promillegehalt von Herbert Juhnke angesiedelt war, wird im Netz
gnadenlos aufgerüstet. In der gegenwärtigen Ungestalt des Netzes, ein zusammenhangloser
Zusammenhang zu sein, wird Literatur um ihr Eigenes gebracht. Die fröhliche Fiktion der
Literatur, ein geschlossener Kosmos zu sein, hält dem Netz nicht stand. Auch die
Rezeptionsbedingungen im Global Village spotten der Lektüre als Königsweg
intellektueller Welterschließung. E-zines mit Literatur- anspruch stoßen gegen ein
Format, das Texte unsinnlich über Monitore scrollen läßt. Kurztexte ohne
Diskursanspruch werden zur Norm. Der Modus des zurückgezogenen Lesers wird im Netz
aufgelöst. Nur über den Medienbruch des ausgedruckten Textes kann digitale Netzliteratur
genießbar werden. Aber die Kondition des Schnellverzehrs von Information sträubt sich
gegen kontemplative Lektüren. Hyperlinks, Icons, Bild-Text-Montagen fördern
Surflektüren, die im patchwork von Piktogrammen enden. Wir nähern uns den
Bilderschriften einer neoägyptischen Epoche, die Franz Werfel schon in den
Anfängen des Jahrhunderts prophezeite. Der neue Leser wechselt die Symbolebenen ohne
Beharrungsvermögen auf der Linearität von Buchstaben. Das Netz reizt zum Suchen, nicht
zum Lesen. Das bessere Wissen liegt immer auf der nächsten website, hinter der bereits
verfügbaren Information. Freilich ist das kein Grund, Neil Postmanns Kritik des
literarischen Werteverfalls als Endzustand der Mediengesellschaften zu folgen. Noch sind
die Entwicklungen der Netzbürger zu ihrer spezifischen Kommunikationsform, ja mehr, zu
ihren eigenen symbolischen Konditionen zu diffus, um den Stab zu brechen.
Bestseller. Dass Literatur das Drehbuch des aufklärungswilligen Zeitgeistes
ist, haben früher nicht einmal die Skribenten geglaubt, die den Massen zugeschrieben
haben, was Demokratien voraussetzen. Aufklärung ist heute das Geschäft der Nachrichten,
News-Channel und des Enthüllungsjournalismus geworden. Nachrichtenticker und
Mouseclickmessages durchflechten die Benutzeroberflächen. Wer Aufklärung mit Nachrichten
verwechselt, verliert auch den Glauben an gesellschaftsstiftende Funktionen der Literatur.
Heute ist das Buch zwischen Entertainment und Wissenschaft das antiquierte Medium
schlechthin. Auch wertkonservative Leselüstlinge lümmeln sich gelangweilt durch
Literaturen, die durch Verlagsprogramme geschleust dem Zeitgeist folgen, ohne die
Widerständigkeit, die Nichtverfügbarkeit, die Apokryphe als Leseanreiz länger begreifen
zu wollen. So verbreiten Cover und Klappentexte Bücher, die geschrieben, vielleicht auch
konsumiert, vor allem aber laut den Bestsellerlisten verkauft werden.
Verlegt. Literatur, die zu Brot geht, ist ohne Medienzurüstung nicht länger
überlebensfähig. Die Sprachrohre, die sich aus den Schießscharten des Feuilletons bis
in den abendlichen Fernsehalltag hineinschieben, haben ihre vorläufige Höchstform in
Literaturverramschungen gefunden, die kammermusikalisch die Präsentation durch
Literaturpäpste feiern und Claqueure im leidensbereiten Publikum suchen. Die
selbstgefällige Darstellung der Vermittler könnte als Krise empfunden werden, wenn nicht
das Pseudocharisma der Medien ihr Eigenes wäre, dem weder Teleprompter noch Souffleur zur
Erleuchtung verhelfen. Allen voran kürt das "Literarische Quartett" Bücher zu
Bestsellern, die schon morgen Ladenhüter sind. Auf eine Präsentation hin folgen
Buchhändler brav mit massiver Werbung für Publikationen, die huldvoll aus dem Meer der
Texte gefischt wurden. Vom Winde verweht wurde die Idee des singulären, selbstgenügsamen
Textes, der sich in der besonderen Beziehung des Autors zum Leser verwirklicht, Geist zu
Geist werden lässt und den individuellen Krisen des suchenden Lesers - von wegen den
lesenden Arbeitern von Brecht bis Bitterfeld - auf die Sprünge hilft.
Literatur muss sich dem Sensationsparadigma fügen, ohne hier die nötigen Referenzen zu
besitzen. Wieso Todes- oder Geburtsjahre Motive für Lektüren begründen, wird für immer
das offene Geheimnis der Vermarkter bleiben. Das Buch steht und fällt im Zeitalter seiner
ökonomischen Verwertung mit dem Absatz, der zugleich sein Bocksfuß ist. Es spreizt sich
in unendlichen Geschichten, die im merchandizing zur Höchstform der medialen
Anspruchsstruktur geraten sollen. Das Buch zum Film, nicht etwa der Film zum Buch,
markiert die einseitigen Umarmungsverhältnisse der Medienwirklichkeit. Verfilmungen
vermehren Editionen und Auflagenzahlen, ohne noch länger von der literarischen Qualität
der Texte abhängig zu sein.
Übersetzungen. Die Ensembles aus Text, Film, Kassetten etc. folgen einer
Konstruktion, die sich nicht nur extern aus Marktinteressen speist, sondern auch die
zentralen Differenzen, die provokative Nichtübersetzbarkeit von Medien unberücksichtigt
lässt. Auch wenn literarischen Abfallprodukte kongenial verfilmbar sein mögen, ist
"Verfilmung" bereits ein Terminus aus dem Lügenwörterbuch der Medienmafia.
Oberflächenmomente wie Namen und Handlungsstränge werden übernommen, der Rest ist
kontingent, leugnet Differenzen, um derentwillen das Buch seine Daseinsberechtigung
reklamieren könnte und lässt Gemeinsamkeiten außer Acht, um derentwillen der Film eine
Aura haben könnte, die im Abschliff des Produktionswahns nicht mehr gelingen will.
Literarische Endspiele. Mit der dichterischen Konzentration auf das Wort, der
Ausbildung freier Imagination, dem Abhub der Geschichten der Welt von den Erzählungen der
Dichter, der Sensibilität für das Absente, in dem die Wirklichkeit im Sog der Sprache
verschwindet, wächst die Spannung zwischen Form und Welt. Hermetische Literatur gerät
aber an einen mächtigen Gegner, der den Namen scheut und sich nicht in das Syntagma
geordneter Weltbilder ergibt. So hat Cocteau der prometheischen Hybris der Dichter
beschieden: "Der Mensch, der das Spiel der Kunst betreibt, beschäftigt sich so
durchaus mit seinen eigenen Angelegenheiten, er läuft dabei allerdings Gefahr, Dinge zu
berühren, die ihn nichts angehen" (Das Berufsgeheimnis). In dieser Warnung
schwingt noch die alte Angst, vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen. Die Gefahr, die
Grundfesten der Welt in Wallung zu bringen, scheint den digitalen Demiurgen inzwischen zur
Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Im Verlust von Ordnung, Form und Bedeutung
strudelt Literatur in einem reißenden Mahlstrom der Zeichen, der mehr Kraft der
Veränderung besitzt, als es Dichtung je reklamieren konnte.
Goedart Palm, Glück und Faulheit, S. 61 ff. in:
18 Antworten auf die Frage nach dem Glück
Ein philosophischer Streifzug - hrsg. von Siegfried Reusch (Autoren:
Rüdiger Safranski, Annemarie Pieper, Pascal Bruckner u.a.)
2011. Buch. 232 S. Paperback
S. Hirzel ISBN 978-3-7776-2143-2
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| "Alles in
unserem Kopfe ist dem Zwang des Augenscheins unterworfen; wir sind nicht
für die Wahrheit geschaffen, und die Wahrheit geht uns nichts an. Die
optische Täuschung allein soll man erstreben." (Abbé Galiani) |
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