„Unaufhörlich Marrons glacés“
Auf der Suche nach dem wahren Leben Marcel Prousts
Biografien gelten als Hintertreppen zum Verständnis eines Genies.
Oftmals sind sie aber nur ein Alibi im eigentlichen Sinne des Wortes,
also ein Anderswo, das nicht den Ort der Dichtung fixiert, sondern die
genuine Leistung des Dichters hinter einigen banalen Existenzaussagen
unsichtbar macht. Marcel Proust war diese „crux“ in seiner Recherche
nicht nur völlig klar, sie war geradewegs sein Arbeitsprinzip. Dieses
setzt nicht auf biografische Rekonstruktionen, sondern auf
Figurenkonstruktionen, die sich aus vielen Momenten realer Personen
speisen und zahlreiche Wahrnehmungserinnerungen überblenden, um zur
Wahrheit zu gelangen. „Es gibt keinen Schlüssel für die Personen
dieses Buches, oder aber es gibt deren acht oder zehn für eine einzige;
auch für die Kirche von Combray hat mir mein Gedächtnis als Vorbilder
viele verschiedene Kirchen vorgegeben. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen,
welche. Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, ob die Fliesen aus
Saint-Pierre-sur-Dives oder aus Lisieux stammen. Bei manchen
Kirchenfenstern sind die einen sicher aus Evreux, die anderen aus der
Sainte-Chapelle oder aus Pont-Audemer.“ Kurzum: Die Wahrheit ist zu
kostbar, um sie der Wirklichkeit zu überlassen.
Jean-Yves
Tadiés im Original bereits 1996 erschienene Biografie „Marcel
Proust“ wurde nun mit einiger Verspätung in die deutsche Sprache übertragen
und kann aufgrund der minutiösen Recherche zum Leben des Meisters
beanspruchen, das biografische Standardwerk zu sein. Immerhin liegt im
Suhrkamp-Verlag seit 1992 das Marcel Proust-Lexikon von Philippe
Michel-Thiriet vor, das unprätentiös und sehr solide bereits das
Faktendickicht um Werk und Autor bändigte. Tadié,
der sein Leben diesem anderen Leben und der Recherche gewidmet hat, weiß
um die Schwierigkeiten seines Vorhabens. Er legitimiert sein Vorhaben
als "Biographie des
Werkes". Das gelingt ihm streckenweise überzeugend,
andere Passagen reproduzieren dagegen nur die Chronologie eines an Überraschungen
weitgehend freien Lebens. Da gibt es auch für diesen Großmeister der
Moderne die üblichen Verstrickungen des Alltags, triviale Streitereien
mit Freunden, Krankheiten, Probleme mit dem Vermieter, die nun andächtig
auf die „Recherche“ projiziert werden mögen, doch wenig zu einer
geistigen Biografie dieses Werks beitragen. Hilfreicher sind da schon
die Ausführungen Tadiés über Prousts Verhältnis zu diversen
Geistesheroen, etwa zu John Ruskin, der zum einflussreichen Lehrer in ästhetischen
Angelegenheiten wird und ihm die verborgenen Gründe der Phantasie
aufzeigt.
„Dieses
mikrologische Verfahren bietet alles, was man über Proust wissen kann,
alles Wissenswerte, was zum Verständnis der Gestalt des Schriftstellers
und seines Werkes beiträgt.“ Das konstatiert vollmundig der
Suhrkamp-Verlag, was nun das von Proust selbst formulierte Problem
weichzeichnet. Was muss man von Marcel Proust biografisch wissen, um
sein Werk zu verstehen? Die „Recherche“ ist ein Werk perfekter
Selbstreferenz. Nichts zählt, was dieses Werk nicht selbst weiß. Und
man kann noch weiter gehen: Die Recherche ist ein so opulenter,
wahrnehmungsfreudiger wie autistischer Kosmos, dessen Fakten man
ignorieren darf, wenn nur das Paradigma der Methode klar bleibt. „Von
einem gewissen Alter an sind unsere Erinnerungen derart miteinander
verwoben, dass die Sache, die man im Sinn hat, oder das Buch, das man
liest, ganz dahinter verschwindet. Überall hat man etwas von sich
ausgestreut, alles ist ergiebig, alles birgt Gefahren in sich, und
ebenso kostbare Entdeckungen wie in Pascals Pensées kann man in einer
Seifenreklame machen“[1]
Denn die intrikate Methode Prousts ist keine Verfahrensanordnung im
eigentlichen Sinne, sondern erfüllt sich im Vollzug, wenn sie den
aufmerksamen Leser auf sein je eigenes Weltverhältnis zurückführt. Um
es in der Sprache einer informationsberauschten Zeit zu sagen: Der Grad
der Konnektivität der Welt erreicht bei Proust eine höhere Ordnung,
als sie vielleicht je literarisch erfunden wurde. Der Rest ist ein
Friedhof, „auf
dessen Gräbern man die verblaßten Namen nicht mehr lesen kann.“
Die
Recherche rekonstruiert also keine historischen Identitäten, dann wäre
sie bloß ein Tagebuch. Vielmehr demonstriert sie die Bewusstseinstätigkeit
in ihrer Verschränkung von Wahrnehmungen und Imaginationen. Anders kann
man auch das „humanum“ nicht verstehen: „Denn
der Mensch ist ein Wesen ohne festes Lebensalter, ein Wesen, das die Fähigkeit
besitzt, in wenigen Sekunden um Jahre jünger zu werden, und das
innerhalb der Wände der Zeit, in der es gelebt hat, auf und ab schwebt
wie in einem Bassin…“ Es ist also
vorzugswürdig, Prousts eigenem Ansatz zu folgen und die
Lebensgeschichte nicht mit dem Werk zu verwechseln. „Ich hatte zu sehr
die Unmöglichkeit an mir selbst erlebt, in der Wirklichkeit zu
erreichen, was auf dem Grunde meines Inneren ruhte…“ Proust weiß,
dass Romane wider die Kontingenz des Alltäglichen kämpfen, sonst gäbe
es wenig Grund, sich auf ein so mühevolles Schreiben wie das der
Recherche einzulassen, das jenes vorgängige Leben so gierig aufsaugt
und entfaltet. Das Leben ist zu krude, mäandernd und unerträglich
leicht, um es so ungefiltert poetisch wahrzunehmen. Poetisch ist nur der
Text, die ästhetische Rekombination der Verhältnisse, wie sie
geschildert werden müssen, um nicht nur literarisch wahr zu werden.
Nichts will Proust erzählen, das nicht auf eine „allgemeine
Wahrheit“ hinausläuft und sich immer auf eine vorgängige Lebenswelt
bezieht, sodass er etwa André Gide den Vorwurf macht, in seinen Texten
die sachlichen Einzelheiten zu ignorieren.
Bei
Marcel Proust bekümmert uns nicht allzu sehr, wer er jenseits seines überragenden
Werkes war. Man kann in der - auch nach der Lektüre der Biografie -
diffusen Sexualvita Prousts graben, erfährt hier etwas über
Masturbation, dort etwas über (platonische) Homosexualität, um
hinterher mit einiger Beliebigkeit doch eher die innige Mutterbeziehung
als sublimierte Quelle seiner Poesie zu deuten. Das sind die üblichen
Letzt- und Wegerklärungen, die sich vor allem um die Erkenntnis drücken,
dass Krankheiten oder andere Auffälligkeiten zwar diese oder jene
Eigenschaft eines Werkes mitdeuten helfen, doch vor dem Phänomen der
Kunst kapitulieren. Familienskripte, Idiosynkrasien oder Tics erklären
längst keine großen schriftstellerischen Werke. Gewiss, erst nach dem
Tod der Mutter legt Marcel Proust richtig los, doch ein Initial erklärt
nicht dieses enzyklopädische Literaturprogramm, sodass
Produktionstheorien, die sich biopoetisch versuchen, unterhalb des
Niveaus ihres Erkenntnisobjekts operieren. „Die Vorstellung eines ´gesunden´
Lebens ist für Künstlerbiographien eine Sackgasse“ vermerkt Ina
Hartwig. Wohl wahr, aber der umgekehrte Weg ist es nicht minder, wie es
die Erkenntnisse von Lange-Eichbaum und anderer belegen, die die
Abweichung als Erklärungsmodell beschwören, ohne daraus eine ästhetisch
plausible Kategorie zu zaubern.
„Der
wirkliche Grund dafür, dass eine geniale Schöpfung selten sofort
bewundert wird, liegt darin, dass ihr Urheber eine ungewöhnliche Persönlichkeit
ist, der wenige Menschen gleichen. Sein Werk wird die wenigen Geister,
die zu seinem Verständnis befähigt sind, befruchten und dadurch zu
Wachstum und Zeugung bringen.“ Diese (Selbst)Erkenntnis Prousts stellt
Biografen vor schwierige Aufgaben, weil auch geistige Biografien
bestenfalls Annäherungen an ein Werk eröffnen. Erst in der Intensität
der Dichtung kann es dagegen gelingen, innere und äußere Weltbezüge
so zu vermitteln, dass die Welt eine neue empfindlichere Textur erhält,
wie sie unser Alltagsbewusstsein kaum je erträgt. Proust lehrt, die
eigenen Empfindlichkeiten nicht als Kontingenzen gering zu achten oder
gar als Bewusstseinsmüll abzutun, sondern sich etwa so darauf
einzulassen wie es mittelalterliche Maler taten, die schlichte Rasenstücke
„ad maiorem dei gloriam“ detailergeben nachschöpften. Vielleicht
sollte man die Recherche als eine Theodizee ohne Gott lesen, die die
Welt in der Wahrnehmung rettet. "Lieber die Trugbilder der
Subjektivität als der Schwindel der Objektivität. Lieber das Imaginäre
des Subjekts als seine Zensur", meint Roland Barthes. Doch die
Differenz von Objektivität und Subjektivität trägt hier nicht mehr
weit genug, um diesen Wahrheitsbegriff zu erschöpfen, was insbesondere
dadurch klar wird, dass das Subjekt für die Einheit dieser Differenz
zuständig sein soll. Das Subjekt, soviel verrät uns jede dialektische
Beobachtung, ist ein „melting pot“ der Ideen, Imaginationen und
Wahrnehmungen und in dieser disparaten Tätigkeit eine objektive Weltschöpfungsinstanz.
Das bloß Subjektive existiert so wenig wie das rein Objektive, sodass
es vorzugswürdig erscheint, jenseits dieser Begrifflichkeit nach der Tätigkeit
des Dichters, also seinem Text, zu fragen.
„Der
Biograph hat seine Arbeit getan, er entlässt seine Leser in die Mündigkeit.“
(Ina Hartwig). Ist literarische Aufklärung der Ausgang aus der selbst
verschuldeten Lektüreschwäche? Man muss Tadiés Text nicht lesen, um
sich zur Lektüre der Recherche freizustellen, sondern um
verschiedenartige Leseerfahrungen als Beleg aufzunehmen, dass auch
Werk-Biografien diese einmalige Suche eines Schriftstellers nicht
hinreichend erschließen. „Die
Zeit vergeht, und allmählich wird alles wahr, was man erlogen
hatte…“. Dieses
Privileg genießt allein die Literatur, Biografien operieren dagegen mit
einem statischen Wahrheitsbegriff, der sich antinomisch zum Wesen des
Literarischen verhält. Denn im Gegensatz zum Biografen, der die
Vergangenheit chrono-logisch fixiert, besteht die Synchronizität der
Proust´schen Methode gerade darin, die Zeiten in wechselvolle
Spannungen zu setzen, um vielleicht doch noch das letzte Geheimnis der
Wirklichkeit aufzudecken. „Auf einmal blieb ich regelungslos stehen
wie vor einer Vision, die nicht nur die Blicke fesselt, sondern auch
tiefere Wahrnehmungsschichten und schließlich unser gesamtes Sein
in Anspruch nimmt“. 1927 wird der letzte Band der Recherche „Le
temps retrouvé“ ediert, das Jahr, in dem auch „Sein und Zeit“ von
Martin Heidegger erscheint. Beiden Autoren ging es um das „gesamte
Sein“. Wie verschieden die Wege dorthin verlaufen, erweist eine
Synopse von französischer und deutscher
Fundamentalontologie, die noch zu schreiben wäre.
Goedart Palm
Jean-Yves Tadié
Marcel Proust
Biographie -
Aus dem Französischen von Max Looser |