Samuel
Beckett, der Unausdeutbare. Samuel Beckett, der große Schweiger. Samuel
Beckett, der Höhepunkt und Überwinder des Existenzialismus. Ist Samuel
Beckett nicht literarisch das Schicksal zuteil geworden, das er seinen
heillosen Figuren, die so tot wie lebendig sind, existenziell bereitete?
Lesen wir seine „Texte um Nichts“ heute nicht bereits wie Zeugnisse
eines schal gewordenen Endzeit-Diskurses, hinter dessen Horizont es eben
doch weiter geht? Im Übrigen kennen wir sattsam den wohligen Masochismus
einer bürgerlichen Kultur, die ihrem künstlerisch inszenierten Bankrott
im Theater beiwohnt und dazu zu applaudieren gelernt hat. Beckett blieb
von dieser seltsamen Heiligsprechung nicht verschont, obwohl in seiner
unhieratischen Welt nichts zu kanonisieren ist.
Es
war einmal fundamental anders. Theodor W. Adorno rüstete Samuel Beckett
zum Säulenheiligen des Postexistenzialismus auf, bescheinigte ihm die
avanciertesten, der „Ästhetischen Theorie“ nach nicht zu überbietenden
Kunstmittel, die jede künstlerische Anstrengung danach als vergebliches
Unterfangen erscheinen lassen möchten. Adorno-Bashing mag eine spätmoderne
Mode einstiger Apologeten sein, aber die angestrengteste Beschwörung des
überhistorischen Stands der eigenen philosophischen Produktivkräfte
mutet dialektischem Verständnis nach inzwischen selbst so antiquiert an,
wie es Adorno keinem geringen Teil der zeitgenössischen Kultur vorwarf.
Adorno avancierte nicht zur zeitlosen Mode, sondern wurde Moment der
Frustration oder des schlechten Gewissens ewiger Bescheidwisser, deren
Wirklichkeit mit Luft in Berührung kam und verkümmerte. Was jenseits
kulturindustrieller Vermarktung von einem ehrfurchtgebietenden
Chefkritiker bleibt, der selbst Gottfried Benn zu gefährlich erschien, um
es auf ein öffentliches Streitgespräch mit ihm ankommen zu lassen, sind
vornehmlich einige Sentenzen und eine „minima moralia“, die in ihren
permanenten Wiederholungen viel von ihrem einstigen Pathos verloren hat.
Dieser kärgliche Befund, diese Entzauberung der je so selbstgewissen
Kritik, könnte auch den Verdacht gegen Beckett schüren, lediglich jenen
vom Existenzialismus getriebenen Zeitgeist für einen kurzen historischen
Moment auf die Spitze getrieben zu haben. Adornos Beckett-Verständnis ist
in nuce der Kern seiner ästhetischen Theorie und Becketts Figuren sind
die lakonischen Zeugen der negativen Dialektik, in der sich jede Hoffnung
in bleiche Erinnerungsspuren auflöst. Hinter dem Endspiel kommt negativer
Ästhetik zufolge nichts mehr, der Horizont markiert keine Erwartung mehr,
sondern wird zur ewigen Grenze des Irrenden. „HAMM: Und der Horizont?
Nichts am Horizont? CLOV das Fernglas absetzend, sich Hamm zuwendend,
voller Ungeduld: Was soll denn schon am Horizont sein?“
„Qu’est-ce
que la littérature?“ fragte
Jean-Paul Sartre 1947 agitatorisch bis kämpferisch, um dem gemäß den
humanen Horizont zu bestimmen, der nach der traumatischen Kriegserfahrung
noch plausibel ist. „Beckett stellt die Existenzialphilosophie vom Kopf
auf die Füße“, lautet Adornos Kernthese, die im Existenzialismus noch
eine letzte falsche Versöhnung mit den vorgeblichen menschlichen
Freiheitsoptionen wittert. Dabei hatte doch gerade Sartre dieser bürgerlichen
Gesellschaft vernichtend bescheinigt: "Die Hölle, das sind die
anderen." Auch wenn der inzwischen nach seinen schönen wilden Jahren
vorsichtig wieder entdeckte Existenzialismus Katastrophen und menschliche
Untiefen kennt, hält er hartnäckig am Selbstentwurf der Freiheit fest,
auch noch in den bedrängtesten Situationen, die Menschen den Verdammten
dieser Erde, also ihren Nächsten und Fernsten, bereiten. Beckett, der zu
Sartre einen eher lädierten Kontakt hatte, zielte dagegen auf alles
andere als eine littérature engagée, die nicht nur die Literatur erfüllte,
sondern auch den Dichter zu politischem Handeln motivierte und Jean-Paul
Sartre noch jenseits des Rentenalters als engagierten Hardcore-Aktivisten
auswies. Bei Peter Weiss erreichte „la cause
du peuple“ dann einen so denkwürdigen wie hoffnungslos
wirklichkeitsversessenen Höhepunkt in seinem 1968 uraufgeführten,
paradigmatisch formulierten "Diskurs über die Vorgeschichte und
den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Vietnam als Beispiel
für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen
ihre Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von
Amerika, die Grundlagen der Revolution zu vernichten".
Leerstelle
Gesellschaft
Sind
die Protagonisten Becketts auch diesen Unterdrückten zuzurechnen?
Reduktion, Sprachverfall, Autismus, Debilität, prädestinieren sie zu
klassischen underdogs, doch ihre allfällige Demontage ist eben nicht mehr
durch Befreiungskampf aufzuhalten oder gar umzukehren. Die Philosophie der
Hoffnung verwandelt sich in die Physiologie des vorscheinenden Todes, die
Soziologie komplexer Gesellschaften in primitive Über-Unterordnungsverhältnisse.
Beckett zitiert in „Murphy“ den
Descartes-Schüler und Okkasionalisten Arnold Geulincx, der anders als
sein Lehrer nicht an die Wechselwirkung von Leib und Seele glaubte,
sondern den Körper wie ein äußeres Ding behandelte. Ohne Gott als
Platzanweiser der menschlichen Tragödie funktioniert gar nichts, doch die
assistentia supernaturalis von „Godot“ lässt bekanntlich auf
sich warten. Taedium vitae ist nicht länger ein kultivierbarer
Lebensekel, sondern eine unhintergehbare Körperreaktion, so wie Francis
Bacon geschundene Körper vorstellt. Die versagende Physiologie dieser
Kreaturen, die auf das Kreatürliche in seiner armseligsten Form
beschieden sind, kann weder als Tod noch als Leben gelten. Der
Gesellschaftsvertrag, die Aufklärung, der humane Habitus des aufrechten
Gangs, die existenzialistischen Selbst-Entwürfe, die Philosophie der
Lebenskunst, alle diese Durchhalteparolen werden bei Beckett als
gleichermaßen aufgeplusterte wie sinnentleerte Losungen prostituiert, die
letztlich genauso versagen wie die aufgeregt sinnstiftende Radikalkritik
an der Gesellschaft, die sie niederreißen will, um sie umstandslos aus
demselben Geröll wieder aufzubauen. Die Absurdität der Sinnsuche hatte
Albert Camus auch entdeckt, aber das absurde Motto „Trotzdem“ findet
bei Beckett keinen Sisyphos mehr. Die einstmals großen Ideen der europäischen
Geistesgeschichte tanzen wie lästige Staubflocken auf dem Tisch, den
Beckett leer räumt. „HAMM: Die Unendlichkeit der Leere wird dich
umgeben, alle auferstandenen Toten aller Zeiten wurden sie nicht ausfüllen,
du wirst darin wie ein kleiner Kiesel mitten in der Wüste sein. Pause.
Ja, eines Tages wirst du wissen, wie es ist, wirst du wie ich sein, nur
dass du niemanden haben wirst, weil du niemand bemitleidet hast und weil
es dann niemand mehr zu bemitleiden gibt.“
Diese Ernüchterung
geht über die Melancholie, die Aristoteles für das Fluidum von Dichtern
und Denkern hielt, heilbaren Weltschmerz oder Vanitas-Motive weit hinaus,
die noch auf die Entschädigungsinstitution „Paradies“ verweisen. Die
Demontage von Menschen, die jeden Halt in der Gesellschaft verlieren, ist
in der spätmodernen Literatur kein einzigartiges Motiv Becketts, eher
wird es zum Standard, mikroskopische Apokalypsen zu schildern, aus denen
es kein Entrinnen mehr gibt. Bei Louis-Ferdinand Celine, Emile Cioran,
Thomas Bernhard ("Alpen-Beckett"),
Sarah Kane bis Michel Houellebecq, um nur einige zu nennen, wankt
in sehr unterschiedlichen Verelendungsvarianten diese angeschlagene
Spezies der letzten Tage auf uns zu. Eine Spezies, die nicht mehr zu
retten ist, sondern hoffnungslose Fallstudien der Psychopathologie repräsentiert.
Ciorans metaphysisches Leiden an der Schöpfung ist Becketts apathischer
Schöpfungskritik besonders nahe, weil auch hier die unbegreifliche
Spannung zwischen dem toten und dem unbekannten Gott wider jeden Glauben
das Denken antreibt. Für Guido Ceronetti sind beide Mystiker: „Ihre
radikale Verneinung der Rettbarkeit des Menschen eröffnet einen Ruheraum
in diesem unserem unbewohnbaren Käfig von zusammengepferchten, kranken
Affen: einen schwach erhellten Raum wie die Eigernordwand, dürftig, in
dem die Begegnung mit Gott, wenngleich für unmöglich befunden, doch
wieder annehmbar wird.“ Doch die Differenz beider, die sich auch in
der persönlichen Abwendung Becketts von dem mit ihm befreundeten Cioran
artikulierte, lag wohl vor allem in Ciorans schwärzestem Pessimismus, den
Beckett in seinem Theater mit schwärzester Komik kompensierte. Sollte die
Kreatur bei Beckett doch noch zu retten sein? Das könnte ein Umstand
sein, den Adorno zu sehr vernachlässigte, um damit Becketts Immunreaktion
gegen die Katastrophenkonstruktion „Mensch und Welt“ zu unterschätzen.
Der
Freud-Leser Beckett suchte nicht den klinisch reflektierten Zugang zu
seinen „Fällen“, zu den stammelnden, autistischen, aus alten Reflexen
und leer gewordenem Weltwissen Handelnden. Die rettende Rekonstruktion in
der Psychoanalyse, die Urbachmachung dieses Seins wäre so vergeblich wie
alle klassischen Heilsprospekte. Becketts Figuren sind clowneske Zeugen
einer negativen Theodizee, die mit Voltaires „Candide“ beginnt und in
Büchners „Woyzeck“ noch drastischer ausgelotet wird. Während aber Büchner
in der Anklage den Reim auf bzw. gegen die desolaten gesellschaftlichen
Verhältnisse findet, gibt es bei Beckett keine echte Genealogie des
Leidens mehr, die gesellschaftliche Schuldzuweisungen, Prophylaxen oder
Therapien legitimiert, sondern primär das entschiedene Verdikt gegen eine
prästabilierte Disharmonie alles Seienden. Nicht erst auf spektakuläre
Gemeinheiten der Schöpfung wie das Erdbeben von Lissabon muss man also
noch länger rekurrieren, sondern die Passionsgeschichte des Einzelnen,
seine lächerliche Konstitution, sein seit der Geburt kranker Körper in
einem Meer von Qualen ist der Beweis gegen Leibniz und die
Sinnstifterbande. Leibniz hatte in der Monadologie, §. 71, behauptet: „Also
ist nichts unangebauetes / nichts ödes / nichts unfruchtbares / nichts
todes in dem ganzen Welt-Gebäude; es ist darinnen kein wüster Klumpen /
keine Verwirrung als nur dem äußerlichen Scheine nach.“ Darauf
antwortet Beckett mit einer Ironie: „Gesicht
und dann Stimme des Kunden: „Goddam, Sir, nein, das ist wirklich
unverschämt, so was! In sechs Tagen, hören Sie, in sechs Tagen hat Gott
die Welt erschaffen. Ja, mein Herr, jawohl, mein Herr, sage und schreibe
die Welt! Und Sie, Sie schaffen es nicht, mir in drei Monaten eine Hose zu
nähen!“ Stimme des Schneiders, entrüstet: „Aber Milord! Milord!
Sehen Sie sich mal verächtliche Geste, angeekelt die Welt an . . . Pause
. . . und sehen Sie da selbstgefällige Geste, voller Stolz meine Hose!“
Friedrich Schelling hatte Ironie als das Wechselspiel von Selbstschöpfung
und Selbstvernichtung bezeichnet, bei Beckett konstruiert sich diese
Ironie als ständiges Wechselspiel von verstummtem Schöpfungsmythos und
elender Wirklichkeit.
Was
könnte in dieser heillos schlecht konstruierten Welt überhaupt noch
retten? Auf Becketts Affinität zu Schopenhauer hat der Dramatiker selbst
hingewiesen, aber bei Beckett verwandelt sich die Wut über das
vergebliche Sein in die Katastrophe des Subjekts, das sich selbst verliert
und allenfalls von ferne noch jene vergeblichen Seinsentwürfe spürt, die
ihm einst Erlösung vorgaukelten. Mitleid "die wirkliche Basis aller
freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe", wird für
Schopenhauer zur ausschließlichen
Kategorie der Ethik. Diese individualistische Kategorie der Mitgeschöpflichkeit
indes kann nicht zu einer gesellschaftlichen Norm aufschließen, die
bessere Verhältnisse im Schlepptau führt. Das Leiden der Kreatur ist ein
zentrales Motiv Becketts. Aber das Mitleid als fragile moralische Kraft
reicht längst nicht hin, diese existenzielle Leere zu lindern, die
zwischen Menschen herrscht.
In
Becketts geschlossener Endspiel-Welt gibt es keine Gesellschaft, die zu
retten wäre, noch gar eine Gesellschaft, die den verirrten, zum Tode hin
lebenden Einzelnen auffangen könnte. Die Ideologie des besseren Lebens in
einer humanen, sprich: sozialen, sozialistischen, gerechten Gesellschaft
ist keine ernst zu nehmende Alternative zur ewigen Verfallsgeschichte des
Einzelnen. „Und kurz bevor ich nicht mehr sein werde, gelingt es mir,
ein anderer zu sein. Was gar nicht ohne ist.“ („Malone“). Hier
wird ein Motiv radikalisiert, das seit Rimbauds „Ich ist ein Anderer“
und weiter geführt von der Psychoanalyse Jacques
Lacans zum beherrschenden Motiv spätmoderner Selbstverfehlung wird, weil
das zweifelnde Ich, das an sich selbst festhält, auch noch diesen Halt
der eigenen, wie immer beschädigten Identität verliert. Rimbaud galt
Adorno als „der erste Künstler obersten Ranges, der Kommunikation
verwarf“. Beckett in einem Interview 1956: „Kein Ich, kein Haben,
kein Sein. Kein Nominativ, kein Akkusativ, kein Verb. Es gibt keinen Weg
weiter.“ Mit dem Bild des Menschen geht auch zugleich das Bild
seiner Gesellschaft unter. Die Gesellschaft ist nur mehr existent als
marginale Erscheinung und Zerrspiegel des beschädigten Subjekts. Übrig
bleiben allein Herrschaftsverhältnisse in ihrer elementarsten und widerwärtigsten
Form. Der Herr, der seinen Knecht drangsaliert, das ist die Komplexitätsreduktion,
wie sie Beckett uns vorstellt. Von den Protagonisten Becketts ist die
Gesellschaft nicht mehr „wahr-zu-nehmen“, weil sie mit der Welt, der
Gesellschaft, dem Leben und dem Glauben daran längst abgeschlossen haben
und Wahrnehmung nicht über das Gesichtsfeld des moribunden Menschen
hinausgeht. Nur in Fiktionen und Erinnerungsspuren ist die Gesellschaft
wie von ferne, fast wie in einer solipsistischen Konstruktion, präsent: „Erträumter
Erträumer, das alles erträumend, um sich Gesellschaft zu leisten“
(„Gesellschaft – eine Fabel“). Michel Houellebecq wird den Abschied
von dieser nichtswürdigen Spezies schließlich mit den Worten vollziehen:
„Dadurch, dass wir das verwandtschaftliche Band, das uns an die
Menschheit fesselte, zerrissen haben, leben wir.“
Theater
und Wirklichkeit
Sind
Becketts trostlose Weltentwürfe sinnlos? Nicht deshalb, weil die
postmetaphysische Welt über keinen Sinn mehr verfügt, sondern weil
Literatur immer versagt, wenn sie über ihren eigenen Begriff
hinausgelangen will? Bleibt das Reale nicht immer außen vor, wenn es künstlerisch
mimetisch nachinszeniert wird? Es ist das älteste Problem des Theaters
und zugleich für seinen künstlerischen Anspruch konstitutiv, wie es mit
Wirklichkeit umgeht, sie in das Theater einführt oder zu einer eigenen
kondensierten Wirklichkeit zu transzendieren versucht. Jede Form des
Theaters ist in ihrem Umgang mit dieser Differenz zwischen virtueller Bühne
und Wirklichkeit zu begreifen. Theater spielt sei je auf dieser heißesten
Schnittstelle bis hin zum jüngsten Theaterskandal, der von dem
Schauspieler Thomas Lawinky dadurch ausgelöst wurden, als er den
Chef-Kritiker Gerhard Stadelmaier beschimpfte und ihm sein Notizheft, die
Machtinsignie des Kritikers, wegnahm. Der nicht minder machtbewusste
Lawinky wurde für diese brutistische Wirklichkeitsverwirrung belohnt, das
Ionesco-Stück „Das große Massakerspiel oder
Triumph des Todes“ vom Frankfurter Schauspiel in
„Being Lawinky“ mit dem Hinweis auf die „Variationen über das
Absurde“ eigens umbenannt. Absurder noch als das absurde Theater selbst,
aber stringent in der Theaterlogik konstruierter Wirklichkeit: Die
Grenzverletzung, Niklas Luhmann würde mit Georg Spencer-Brown von
Re-Entry sprechen, kehrt wieder in den resakralisierten Theaterraum zurück.
Das hat auch wohl von ferne das Ministerium für Staatssicherheit der DDR
geahnt, als Lawinky für seine IM-Tätigkeit den Decknamen „Beckett“
erhielt.
Es gibt
jedoch kein wahres Theaterleben jenseits der Bühne, selbst wenn in seinen
drastischsten Formen, etwa dem in die Jahre gekommenen
Orgien-Mysterien-Theater von Nitsch, Mühl et alii, die Kraft der Symbole
durch das Reale belegt werden soll. Wenigstens Tierblut soll den
Wirklichkeitsschauder des wieder erweckten Rituals belegen, Menschenopfer
gibt es bislang nur bei Theaterschließungen. Auch
bei Frank Castorf regieren echte Substanzen und drastische
Wirklichkeitssurrogate von Kartoffelsalat über Theaterblut bis hin zu
unfreiwillig verspritztem echten Blut (Tito-Darsteller Marc
Hosemann im Stück „Kokain“). Doch gibt es
ein wirkliches Leben im künstlichen? Der "effet de réel"
(Roland Barthes) ist längst vor dem so angestrengten Provo-Theater der Körperflüssigkeiten
bereits die reale Anwesenheit des Schauspielers. Der Atem des
Schauspielers, sein Körper, die Live-Situation sind die ältesten
Wirklichkeitsbelege, die Antonin Artaud für das „Theater der
Grausamkeit“ reanimieren wollte. Diese Leiblichkeit im realen Raum ist
die vorzüglichste Eigenschaft des Theaters, im imperialen Kampf um
Aufmerksamkeit gegenüber elektronischen Aufzeichnungs- und
Verbreitungsmedien eine Nische zu behaupten.
Orgien-
und Massakerspiele mögen gut sein, aber echte Grenzverletzungen, die den
Bühnenraum wirklich sprengen, sind besser. Für Zuschauer ist das die älteste
Kondition ihrer Beteiligung, vor jeder inszenierten Grenzverletzung. Das
Publikum verliert bei der Uraufführung von Friedrich Schillers „Die Räuber“
1782 im Nationaltheater Mannheim völlig die Fassung, die eben nur
scheinbar durch das Heterotop „Theater“ gewährleistet wird.
Rezeptionsanfänger prügeln immer wieder den Schauspieler mit der bösen
Rolle, der sich dahinter nicht verstecken soll. Franz
heißt die Kanaille! Das ist der Preis der Mimesis, von der sich
Aristoteles die seelische Läuterung versprach. Georg Simmel warnte 1909: „Der
Schauspieler hat die viel größere Aufgabe, den Zuschauer dauernd vor dem
Überschreiten der Kunstgrenze zu behüten, zu dem gerade seine
spezifische Aufgabe: die volle Versinnlichung des Kunstinhaltes, dauernd
verführen möchte.“ Diese Warnung, die Bertolt Brecht später
variiert, wird nicht ernst genommen. Auch in seinen reflektierten Zugängen
entfaltet sich das Theater auf dieser Schnittstelle von Wirklichkeit und Künstlichkeit.
Die Materialität des Theaters ist der Versuch, immer wieder die zuvor
ausgetriebene Wirklichkeit zuzulassen oder sie sogar zu überbieten. Obszönitäten,
Hässlichkeiten auf der Bühne sind also nicht nur Wahrnehmungsfallen,
Tabubrüche, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Medienphänomenologisch geht
es zugleich um die Induktion von echtem Leben, um Wirklichkeitszertifikate
des Theaters, wenn Schauspieler sich in diversen Lebensvollzügen leibhaft
demonstrieren. Das Theater schreit permanent nach Wirklichkeit und will in
diesem schärfsten Antagonismus erhört werden. Aristoteles, der das Lesen
von Tragödien für ausreichend hielt, die Katharsis zu finden, wird auf
dieser Bühne endgültig ausgetrieben. Echt, unecht, als ob, der Wechsel
zwischen Wirklichkeitszuständen, das Spiel an der Rampe, die Live-Form,
die doch zugleich idealisch und erhaben ist. Das Theater hat seine
Wirklichkeit in vielen Varianten präsentiert: als moralische Lehranstalt,
episches Theater, Theater der Grausamkeit, Antitheater, Theater der
Unterdrückten. Allen diesen so vorgeblich heterogen erscheinenden
Konzepten ist gemeinsam, dass der Zuschauer erfasst wird,
medienkompetenziell professionalisiert wird bis selbst der Rollentausch
von Schauspieler und Publikum eine Option für die entfesselte Bühne
wird. Das „Diesseits“ wie „Jenseits“ der Rampe wollte Artaud
kurzerhand verabschieden: „Wir schaffen Bühne wie Zuschauerraum ab.“
Sind das echte Wirklichkeitserschließungen des Theaters oder nur mediale
Spiele?
Welche
Wirklichkeit inszeniert Beckett? Es wurde gesagt, dass der Dramatiker
seine Stücke gegen die Wirklichkeit abdichtet. Der Realismus Balzacs,
dessen Wirklichkeitserschließung Karl Marx so sehr bewunderte, war ihm
zutiefst zuwider. Bereits die puristischen Bühnenbilder, diese Nichtorte
der Leere, signalisieren, dass die Wirklichkeit im „Hier und Jetzt“
auf ein Fast-Nichts geschrumpft ist. Insoweit besitzt diese Wirklichkeit
atopischen Charakter, sie findet keinen Ort mehr, oszilliert zwischen
verschiedenen Realitätsgraden und ist hüben wie drüben gleich
furchtbar. „Jenseits ist...
die andere Hölle“, weiß Hamm und definiert damit ein Diesseits, das
sich nicht wirklich vom Jenseits unterscheidet. Wirklichkeitsdemontage und
Wirklichkeitskonstruktion sind aber keine echten Antinomien, wenn man Francesco
de Sanctis folgt, dessen Motto Beckett geläufig war: „Chi non ha la
forza di uccidere la realtá, non a la forza di crearla“ (Derjenige,
der keine Kraft hat, die Wirklichkeit umzubringen, hat auch keine Kraft,
sie zu erschaffen). Beckett kehrt die Wirklichkeitsbeschwörung, die
Materialität des späten Theaters um und konstruiert eine
illusionsuntaugliche Nichtwirklichkeit. Darin folgt er nach seinem
Biograph James Knowlson Demokrits Wissen „Nichts ist wirklicher als
Nichts“. Nur ist das „Nichts“ eben nicht als Entität fassbar,
es zerstört den Schein, aber entzieht sich zugleich jeder
Begrifflichkeit. Bertolt Brecht richtete sich gegen die den Zuschauer
einlullende Mimesis, gegen die vorgebliche Theaterwirklichkeit der
Illusion. Bei Beckett entsteht der V-Effekt über das Spiel mit dem
angeschlagenen Wirklichkeitsstatus der fiktiven Personen und Orte. Die
Identifikation mit den clownesken, holzschnittartigen Figuren, mit diesen
Schattenexistenzen des Seins ist verstellt. Einfühlung ist unmöglich,
auch wenn hier die „conditio humana“ verhandelt wird, bleibt es eine
krude Mimesis, die keine Katharsis spendet. Man kann diese Protagonisten
nicht lieben oder hassen, weil in ihnen „das Nichts selbst nichtet“
(Martin Heidegger) und schon die Vorstellung eines realen Schicksals
metaphysischem Übermut gleich käme. Die Nähe Becketts zu Heidegger ist
dabei viel größer, als es Adorno zulassen kann, wenn ihm zufolge die
individualistische Position polar zu jedem existenzialistischen Ansatz gehört.
Heidegger hat die Auflösung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes geradewegs als
zentrales Moment seines ontologischen Verständnisses deklariert. Darin
trifft sich Heidegger mit den Zen-Buddhisten, etwa mit Hui-Neng, der die
Auflösung des Subjekts mit der Formel „Alles ist Nichts“ kombinierte.
Wo
aber Gott nicht ist, wächst die Komik auch
Endspiele
sind im Schachspiel mechanische Räderwerke, die eine Partie zwingend
finalisieren. Die unzähligen Varianten des Anfangs, die Vielfalt
komplexer Stellungen reduziert sich auf das – für den Meister –
Vorhersehbare, weil die Spielmuster festgelegt sind. Becketts Entscheidung
für diese eher undramatische Spielphase,
nicht nur als Titel eines Stücks, sondern als Dramenform, passt
zur Rigidität der Figuren und ihrem katatonen Handeln,
das nicht kategorial vom Nichthandeln zu unterscheiden ist. Adorno wies zu
Recht darauf hin, dass bei diesem Endspiel offen bleibt, wie es endet. Im
Prinzip verlieren in Becketts Variante alle Beteiligten, selbst das alte
Machtspiel als Surrogat der enttäuschten Sinnsuche ist fad geworden.
Jeder für sich und Gott gegen alle. Es hieße in den narrativen
Labyrinthen, durch die sie irren oder in ihnen verharren, noch an
irgendeine Geschichte zu glauben, wenn es ein wirkliches Ende gäbe. Es
wurde zur Signatur Becketts, Zustände zu beschreiben, die sich wie in
einer Schrödinger-Box nicht mehr zwischen Sein und Nichtsein entscheiden.
„Tot“ oder „lebendig“ werden ins Becketts Schattenreich zu
Äquivokationen,
die für das menschliche Selbstverständnis verstörender nicht sein könnten.
Wie soll man diese Kondition bezeichnen, wenn das Subjekt seine
Subjektivität verloren hat, aber nicht aufhört, davon zu stammeln, um im
nächsten Satz zu dementieren, was wahr schien? Nach dem Endspiel ist das
Theater aus, das auf der Bühne und das im Leben. Endspiele kennt die
Kunst des 20. Jahrhunderts indes so viele, dass die Verkündung des Endes
der Kunstgeschichte geradewegs zum Garanten ihres Überlebens wurde.
Kasimir Malewitschs schwarzes Quadrat oder Marcel Duchamps Readymades sind
als künstlerische Endspielvarianten kaum zu überbieten, respektive zu
unterbieten. Die Institution Kunst hat das nicht allzu sehr berührt, was
immerhin die Wirkung des Rezepts „Institution“ gegen Melancholie
belegt, das Arnold Gehlen für besonders probat hielt.
Duchamp
spielte mit Samuel Beckett Endspiele. Als tendenzieller Profi war Duchamp
der bessere Spieler, der ein Schachtheoriebuch (zusammen mit Vitali
Halberstadt) „Opposition und Schwesterfelder“ verfasste und an
Meisterturnieren teilnahm, die ihm wohl wichtiger wurden als die Kunst,
die mit seinem artistischen Spiel ja zum Ende ihrer Geschichte gelangt
war. „From my close
contact with artists and chess players I have come to the personal
conclusion that while all artists are not chess players, all chess players
are artists”, erläuterte er 1952 für alle jene, die sein Schweigen für
überbewertet hielten.
Wie also
Endspiele spielen, wenn alles schon zu Ende ist? Wird Hamlet auf den
Nullpunkt, wie es Adorno formuliert, heruntergefahren: „Krepieren oder
Krepieren, das ist hier die Frage.“ Solange gespielt wird, auf der Bühne,
im Theater, im Leben, solange wird das Krepieren aufgeschoben, solange
muss gelebt werden, wenn man nicht so stoisch wie folgenlos das Leben
selbst als Sterben bezeichnet. Das „Negativ sinnbezogener
Wirklichkeit“ (Adorno) reicht nicht zum wahren Nichts hin, sondern ist
eine „tabula rasa“, die anders, mit komischen, grotesken, absurden,
subversiven, improvisierten Mitteln weiter bespielt werden will. Friedrich
Dürrenmatt beschied der Welt, sie sei zwar grotesk, aber nicht absurd. Zu
diesen Bedingungen muss weitergespielt werden. Es gibt gerade kein letztes
Endspiel, zu dem Adorno Becketts Weltverwerfungen mutieren ließ. Es geht
bei Beckett nicht nur um Spiele, die die Schwundstufe bürgerlicher
Existenzen vorführen, wie es der gesamten Beckett-Interpretation in der
Nachfolge Adornos erschien. Beckett treibt mit Entsetzen Scherz und ist
als genuiner Clown ernst (sic)
zu nehmen, ohne dass die Unterscheidung von „Ernst“ und „Spaß“
noch alten Begriffen folgte. Das Leben ist in seiner Absurdität schon
immer komisch und dieses Wissen Becketts muss auf neue Spielvarianten
bezogen werden in Zeiten, in denen die alten Spielauffassungen nur noch
vom Verderben künden. Becketts gewaltiger literarischer Erfolg begann mit
dem Lachen seines zukünftigen Verlegers Jérôme Lindon, der „Molloy“ so hochkomisch empfindet, dass er sich
fortan dem Werk Becketts verschreibt bis hin zur Entgegennahme des
Nobelpreises 1969 für den publikumsscheuen Autor. Wer dieses Lachen nicht
versteht, versteht Beckett nicht: „Man hat so lange das Schlimmste
vor sich, bis es einen zum Lachen bringt.“ (Mirlitonnades). Das
Lachen, das hinter dem Kalauer steckt, ist zwar beschädigt, wie Adorno zu
Recht konstatiert. Der Humor der Clowns ist aber nicht nur die Regression,
als „ästhetisches Medium veraltet“, widerlich und ohne „Versöhnung“
zugleich. Allein der versöhnende, augenzwinkernde Humor selbst ist lächerlich
geworden, das Lachen in und nach der Verzweiflung wird zu einem Remedium,
das alte Heilgeschichten noch nicht kannten. „Die Ironie des Dichters
ist die negative Mystik der gottlosen Zeiten“ (Georg Lukács). Es bleibt
eine wie immer auch vergebliche Selbsterhöhung des Dichters über die lädierten
Verhältnisse mit komischen Mitteln. Becketts Komik entspringt daher nicht
nur der Verletzung, sondern ist zugleich ironischer Widerstand gegen Verhältnisse,
die hoffnungslos erscheinen, aber eben nicht gegen andere ausgetauscht
werden können. Die „Mimesis ans Verhärtete“ (Adorno) ist ein
ironischer Gestus, der mit der Spannung von Identischem und
Nichtidentischem spielt. „HAMM: Die Natur hat uns vergessen. CLOV: Es
gibt keine Natur mehr. HAMM: Keine Natur mehr! Du übertreibst.“ Das
postexistenzialistische Lebensgefühl provoziert Seinsweisen, die längst
nicht nur mit den enttäuschten Frohbotschaften hadern. Man entfremdet
sich auch der Entfremdung, enttäuscht sich über die Enttäuschung, bekämpft
das Absurde mit absurden Mitteln, ohne in das Pathos von Camus verfallen
zu müssen. Adorno reduzierte Becketts Text dagegen auf das
„Inkommensurable“, das die Philosophie in den Begriff verräumt und
dessen Wahrheit unterschlägt. „Die Worte klingen wie Notbehelfe,
weil das Verstummen noch nicht ganz glückte, wie Begleitstimmen zum
Schweigen, das sie stören.“ Thomas
Bernhard meinte gar „Die
Wirklichkeit ist so schlimm Dass sie nicht beschrieben werden kann“
(„Heldenplatz“), was einer
Kapitulation inszenierter Wirklichkeit gleich kommt. Wäre diese
Entkategorisierung der Sprache richtig, gäbe es keinen Grund, solche
Notbehelfe überhaupt noch aufzuzeichnen, was im Fall „Bernhard“
besonders einleuchten würde. Adorno wollte „die Mauer sprengen, die der
Begriff durch sein eigenes begriffliches Wesen um sich und um das, worauf
er geht, legt.“ Da aber nur mit dem Begriff über den Begriff
hinauszugelangen ist, wird die negative Dialektik so wenig diesen Horizont
überschreiten wie Becketts „Platzhalter des Nichts“, die allemal
verdammt sind, im Zirkel zu gehen, bis der Untergang sie erlöst. Die
Begegnung mit seinem deutschen Meisterexegeten löste bei Beckett indes
nur Kopfschütteln aus. Beckett erklärte, dass er bei der Figur des
„Hamm“ nie an „Hamlet“ gedacht habe, was Adorno keineswegs
bewegte, seinen „Versuch“ zu überdenken und Beckett gegenüber
Siegfried Unseld zu der Aussage veranlasste: „Das ist der Fortschritt
der Wissenschaft, dass die Professoren mit ihren Irrtümern weitermachen können.“
Adornos „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ ist also Versuch
geblieben. „Krepieren oder Krepieren“, ist also gar nicht die Frage.
Harmonica (Charles Bronson) hatte das Endspiel besser verstanden, als er
nach dem Showdown mit Frank (Henry Fonda) das enttäuschungsanfällige
Versprechen des Kaffs „Sweetwater“ verlässt. Zum
guten Schluss sagt Jill McBain (Claudia
Cardinale): "Ich werde hier auf dich warten!" Darauf
antwortet der unerschütterliche Endspieler Harmonica, der sich damit
zugleich in Godot verwandelt: "Einer wartet immer!"
Goedart
Palm
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