Von der Aufklärung zur Abklärung
Als Motivationsfaktor und
Legitimationsgrund des neuzeitlichen Selbst herrschte die aufklärerische
Idee der Freiheit, die den Menschen erst seiner wahren Bestimmung zuführt.
Freiheit der Entscheidung und Wissen um die Welt koinzidierten in
Bildungsprogrammen humanen Fortschritts zum vollen Menschsein. Damit
wuchs zugleich der Selbstzweifel, die Befürchtung, nichtauthentisch zu
sein, weil permanent (Selbst)Erfüllungsdefizite und Gewissheitsverluste
auftraten, die in spätmodernen Selbstverwirklichungsspiralen ihren vorläufigen
Höhepunkt gefunden haben.
Historisch
leitete sich die Aufklärung als Medienzentrum und gigantische
Nachrichtenbörse ein, die zwischen Flugblättern, Zeitungen und
Enzyklopädien die ganze Welt als Bezugsgröße des Subjekts
topografierte. Enzyklopädisten gingen von der tendenziellen
Medialisierbarkeit des Wissens für das autonome Subjekt aus, wenngleich
etwa die Kosten der berühmten Enzyklopädie Diderots und d'Alemberts
nach historischen Angaben das Budget der meisten Zeitgenossen überschritten.
Autonom konnte nur der citoyen werden, der auch die kognitiven und ökonomischen
Ressourcen besaß, um sich medial aufzurüsten. Solche Widersprüche
waren in der euphorischen Geburt der Welt aus dem Geist der Bibliothek
indes marginal, wo es doch jetzt und in alle Ewigkeit darum ging, das
relevante Weltwissen für Zeitgenossen und spätere Generationen zu
vermitteln. Aber nicht nur das Kollektivwissen der Menschheit sollte
Stoff der Selbstvermittlung werden. Mit der Entstehung persönlicher
Aufzeichnungen in Memoiren, Biografien und Tagebüchern emanzipierte
sich zugleich das individuelle Wissen über die Welt als genuines
Erkenntnismedium. Persönliche, d.h. authentische Erfahrung war ab jetzt
wertvoll genug, das gemeinsame Wissen, die Großerzählungen von
Weltereignissen und fleischgewordenen Weltgeistern zu ergänzen – aber
auch zu konterkarieren, weil nur so die eckige Rationalität emotional
rund werden könnte. Nicht nur Hegels Weltgeist, sondern auch Werthers
sentimentalpsychologische Leiden oder romantische Herzensergießungen
kunstliebender Klosterbrüder sollten vermittelt werden. Der Weg zum
Wissen über die Welt führte nicht nur in fremde Kontinente und zurück
zum Anfang der Menschheitsgeschichte, sondern tief in individuelle
Seelenlandschaften. Unsichtbar wurde im romantischen Diskurs gemacht, dass
Authentizität durchweg eine ambivalente condition humaine ist, weil die
Wege zurück zur Natur, d.h. zum authentischen Ursprung nicht erst in
funktional differenzierten Gesellschaften verschlossen bleiben, sondern
schon je ein Eiertanz, wenn nicht eine Springprozession zum nicht
auffindbaren Ursprung dieses Selbst waren. Der rousseauistische Rekurs führt
in die Leere, kehrt die erstaunlichen Emergenzen des Selbstseins um,
endet in der Selbstauflösung der Person im adamitischen
Urschlamm.
Je mehr Wissen über kollektive und
individuelle Welten verfügbar wäre, desto geringer sollten die
Gefahren sein, dass das Subjekt in Ketten liegt und sein Recht auf ein
authentisches Weltverhältnis verfehlt. In idealistischen Großkonzeptionen
der Selbstverwirklichung wurde dabei nicht verkannt, dass das Selbst
nicht lediglich eine antinomische Position zu gesellschaftlichen Ansprüchen
manifestiert, sondern selbst ein Medium ist, das eben in der Vermittlung
zu sich selbst vordringt. Etwa bei Fichte konstituierte sich das 'Ich'
in der medialen Spannung von 'Ich' und 'Nichtich', um sich das Fremde
einzuverleiben. Das 'Ich' markierte fortan die schwierige Position
zwischen Identitätsbildung, Selbstbehauptung und sittlichem Handeln in
gesellschaftlicher Vermittlung, die erst ein authentisches Sein möglich
machte.
Selbstbestimmung im inneren Diskurs
von Ich und Anderen stieß sich zunächst noch nicht an den
Kehrtwendungen einer Aufklärung, die neue Unfreiheiten gegen alte
eintauschte und das 'Ich' immer welt- und ortloser werden ließ. In der
Aufklärung nistete aber bereits früh eine boshafte Dialektik, die etwa
den kategorischen Imperativ in der Deutung de Sades zum ungehemmten
Machtdiskurs werden ließ. Indes sollte auch dieser 'Kollateralschaden'
der Aufklärung den Protagonisten ein authentisches Selbst garantieren,
das aber nicht länger mit sittlichen und moralischen Ansprüchen
verkoppelt war. Folgenreicher noch als die Dialektik in den beiden
Herzkammern der Aufklärung war aber der Weg in Innenwelten, die immer
nachhaltiger vom medial wuchernden Weltwissen aufgeladen wurden. In der
Vermittlung des Selbst wurden gesellschaftliche Widerstände gegen persönliche
Autonomie und Authentizität auf reflexivem Wege wieder eingeführt,
nachdem dogmatische Herrschafts- und Machtwege immer unpassierbarer
wurden. Ab jetzt konnte das Subjekt die Demarkationslinie zwischen sich
und der Gesellschaft nicht mehr nur nach außen auf die Barrikaden
seines Freiheitskampfs verlegen, sondern musste sie in seiner Identität
vermitteln. Freilich war das eine ante litteram schon von Augustinus
verordnete Kondition, die immer stärker von der Sorge um sich selbst
erfüllt wurde. Auch wenn dieses Wissen noch nicht im heutigen
Fraktalwissen schlecht vernähten Medien-Patchworks implodierte, das zur
formlosen Form unserer Kommunikationsmedien wurde, war mit der medialen
Selbstkonstruktion des Subjekts eine schwierige Aufgabe
entstanden.
Das Authentische avancierte so zur
selbstverständlichen, aber zugleich paradoxalen Großkategorie, die in
sämtlichen gesellschaftlichen Bezügen zum Gradmesser neuzeitlicher
Identität wurde. Wohl dem, der auf dem schmalen Grad dieser
Selbstvermittlung des authentischen Seins wandeln konnte, ohne sich an
den scharfen Klippen der Entfremdung zu stoßen. Schnell erwies sich
auch nach dem Ausglühen der Scheiterhaufen die pragmatische
Hintergehbarkeit eigener Positionen als der mitunter bessere Stolperpfad
des Subjekts – weit unterhalb des von der Vernunft gepflasterten Königswegs.
In heteronomen Bezügen kann Authentizität, d.h. der aufrechte Gang des
mündigen Subjekts teuer werden. Der individuellen Verfügbarkeit von
Medien folgte schon früh die Zensur auf dem Fuße und nicht nur Büchners
"hessischer Landbote" wurde zum gejagten Reporter. Metternichs
Zensur terrorisierte Europas Intellektuelle, die ihre Authentizität
gegen die Staatsräson stemmten – ein leidensgeprüfter, aber auch
selbstverliebter Gestus, von dessen Restposten auch noch zeitgenössische
Literaten zehren, obwohl im Westen längst die Apathie gegenüber
antagonistischer Wahrheitsfreude zur subjektiven Grundausstattung wurde.
Satanische Verse oder Blumen des Bösen sind dem Okzident gefällige
Nachttischlektüre geworden... Goedart
Palm |