Gefährliche
Erbschaften
Denken
ist trivialerweise von produktiven gesellschaftlichen Bedingungen abhängig.
Ohne Universitäten, Akademien, Klosterschulen, Salons, Cafes, Elfenbeintürme
und Einsiedeleien der unterschiedlichsten Art wären viele Hirnprodukte
nicht möglich gewesen. Wie viel verdankte die Aufklärung des
Menschengeschlechts dem „Salon“, einer Sphäre jenseits öffentlicher
Kontrolle, jenseits von drakonischen Strafen für Kritiker und gnadenloser
Zensur für die Häretiker der Neuzeit? Die Geburt der Aufklärung aus dem
Geist des Salons folgte vordergründig der Synthese von Lust, List und
Vernunft: „Lecker essen“ und noch erheblich delikater denken, um die
alte Gesellschaft in eine lichtvollere, geistig unabhängigere,
zwanglosere Zukunft zu überführen. Die intellektuelle Privatheit
bereitete Sprengungen vor, Umwandlungen der Öffentlichkeit, wie sie die
Welt noch nicht gesehen hat. Gerade die Zensur war insoweit produktiv, als
sie den Zusammenschluss der Denker als Keimzellen einer besseren Welt förderte.
Not macht nicht nur erfinderisch, sondern motiviert gerade den Kampf gegen
die Repression. Diese Kämpfe, Siege und Niederlagen, Zentren und
Peripherien schildert der Historiker Philipp Blom farbig und detailliert,
sodass die Lebendigkeit seiner Rekonstruktion zu einer veritablen
Zeitmaschine wird. Die Aufklärer um Denis Diderot (1713 -1784), Jean-Baptiste
le Rond D’Alembert 1717 – 1783), Paul Thiry d'Holbach (1723 –
1789), Claude Adrien Helvétius (1715 – 1771), Julien Offray de La
Mettrie (1709 – 1751), Friedrich Melchior Baron von Grimm (1723 -1807)
und anderen werden in ihren produktiven Philotopen so präsentiert, dass
uns jetzt fast nur noch das Ego Thinker-PC-Spiel zum Buch fehlt.
Auch
Vorläufer wie Jean Meslier (1664 - 1729) und viele andere Nebenfiguren
der Meisterdenker, Ehefrauen und Freundinnen betreten die Bühne, wie die
kongeniale Freundin Diderots, Sophie Volland (1716 - 1784), von der keine
Zeile überliefert ist. Dabei war der Einfluss der Frauen auf das Werk der
Aufklärung erheblich, auch wenn Diderots für heutige Ohren eigenartiges
Kompliment darin bestand, seiner Sophie zu attestieren, „kaum“ eine
Frau zu sein – sprich: männerspezifischen Verstand zu haben. Nicht zu
überschätzen ist die Bedeutung der Salonières Madame d'Holbach, Madame
Helvetius oder Madame Geoffrin, die „eine Art von Hauptquartier der
Enzyklopädisten“ (Erich Köhler) unterhält. Diese kosmopolitischen
Salon-Netzwerke verdichten sich gleichermaßen zum Panoptikum eines
philosophischen Großprojekts wie in der Retrospektive zu Sehnsucht begründenden
Orten einer klandestinen Heimat des Geistes. Dieser soziale Mikrokosmos
der Aufklärer spiegelt die Dynamik ihres Denkens besonders gut wider,
weil hier zum ehesten in glückhaften Momenten die Bedingungen einer
kommunikativen Vernunft eingelöst wurden, so wenig das an dem Umstand ändert,
dass Salons zugleich die größten Klatsch- und Tratschorte waren, wo
zwischen Liebeshändeln und Alltagskram alles Menschliche verhandelt
wurde.
Die
„philosophes“ waren umtriebige Leute, die ersten wirklich Modernen,
die aus der alten Ordnung herausgerissen zu produktiven Meistern des
Multitasking wurden, zu Arbeits- und Lustmaschinen zwischen Vernunft und
Gefühl, Lektüren und Skripturen, Familien und Mätressen, Salons und
Zensoren. Nun begehen wir hier historisches Terrain, das bereits zuvor
recht gut ausgeleuchtet wurde, weil die geschichtlich präzedenzlose
Verschränkung von Denken, Philosophie, Naturwissenschaft und Politik den
gewaltigsten gesellschaftlichen „Knall“ produzierte und die
Philosophie erstmals berechtigte, an ihre seit je geforderte unmittelbare
Wirkungsmacht zu glauben.
Diderots Schatten
„Es
ist möglich, dass uns die Einbildungskraft ein viel größeres Glück
bereitet als der Genuß selbst.“ (Denis Diderot, Über die Natur) Der
Denker wird in seinem literarischen Fantasma frei, indem er sich gegenüber
den verkrusteten Objektiviationen der Gesellschaft fundamental neu
einrichtet. Was anderes wäre denn die Enzyklopädie als die Aufzeichnung
der Materialität von Welt und Gesellschaft, in der sich der
vorurteilslose Denker zuvörderst als Medium begreift und seine Originalität
als kontingenten Umstand erfährt. Das Genie ist darin noch Teil der
Gesellschaft und nicht wie in der Frühromantik deren Antipode. Hans
Magnus Enzensberger, selbst ein Spätenzyklopädist zwischen Literatur,
Medientheorie und Mathematik, hat sich zu „Diderots Schatten“
verwandelt. Wie schon zuvor Goethe und Schiller ist er von Denis Diderot
deshalb begeistert, weil dieser die Welt enzyklopädisch für alle Zeiten
erschließen wollte und zugleich auch ein Medienfreak vor der Zeit war,
konkret ein Hörspielautor, zwar ohne Aufnahmegerät, aber dafür mit
dessen sonarer Sensibilität. Liest man die Briefe Diderots an Sophie
Volland, weiß man warum. Diderots erzählt hier nicht nur „gossip“,
den er mit philosophischen Diskursen, Enzyklopädie-Fetzen und genialen
Einfällen collagenartig anreichert. Deutlich wird das Interesse des
Briefeschreibers, die Figuren selbst zu hören, mitunter gibt es Hinweise,
dass genau das oder doch annäherungsweise das erzählt wurde, sodass wir
in einen polyphonen Echoraum zahlloser Figuren eintreten. Und es gibt in
diesen volatilen Zeiten so viel zu erzählen, dass sich die neuen
Lebensprospekte nur so auftürmen und Aporien produzieren, die heute noch
nicht eindeutig gelöst sind: So stellt Diderot Sophie Volland so
intrikate wie uns noch heute bewegende Fragen, ob sie es für moralisch
vertretbar hält, dass eine Frau, die nicht lieben und heiraten will,
einen Mann auffordert, ihr eine Samenspende zu leisten. Diderot vergisst
nicht hinzuzufügen, dass er nicht dieser angesprochene Mann sei.
Der
Schatten ist ein übergreifendes Motiv, das Diderots weit gespannte Präsenz
in fast allen Themenbereichen gut fasst. Zugleich bleibt es aber auch oft
nur ein Schatten, weil Diderot keine großen, voluminösen Werke
hinterlassen hat, was nicht lediglich seiner Natur geschuldet war, sondern
mindestens ebenso dem gefährlicher Verdacht staatlicher Mächte, die getäuscht
werden mussten. Wer schreibt, der bleibt. Und wer zuviel und zu böse
schreibt, der wandert in den Knast. 1749 landet Diderot drei Monate in
Vincennes, was eine traumatische Bedeutung für ihn gewinnt, vor deren
Hintergrund der Salon der
Gleichgesinnten als Hort relativer Sicherheit erscheint.
Gegenüber
dem quirligen Denis Diderot gilt der Baron d´Holbach, der Verfasser des
„Système de la nature“ (1770), der „Bibel des Materialismus“ als
stilistisch wenig brillanter Philosoph, dessen „Flachheit“ sich eher
der Flachheit seiner Kritikern verdanken könnte. Zentral wird für ihn
die Erkenntnis, dass die Seele, die er längst nicht verabschiedet, ein
Produkt der materiellen Ursachen ist, die auf das Gehirn wirken. Das ist
gerade keine antiquierte respektive überwundene These, wie die
zahlreichen unerledigten Dispute zur „Philosophie des Geistes“
demonstrieren. Allerdings war der Glaube des Barons, dass die
Wirkungsweisen der Stoffe nur rekonstruiert werden müssten, um den
Menschen und sein Handeln vorauszusehen, jedenfalls bis zur Gegenwart
irrig genug ist. Zwischen Pädagogik, der Lehre von den Temperamenten bis
hin zum - gentechnologischen - Glauben, die Mängel eines fehlerhaften Körperbaus
oder der Temperamente auszugleichen, bewegte sich der Baron auf dem dünnen
Eis der Machbarkeit des Menschengeschlechts, seiner Gesellschaft und
seines Glücks. Es war ihm auch nicht gegeben, zwischen den „Zielen“
der Natur und des Menschen zu unterscheiden, was nebenbei bemerkt zu einer
der nicht abgelösten Hypotheken der Aufklärung wurde. D`Holbach schließt
keck aus der Erkenntnis der Natur auf die wahre nützliche Politik, die
sich der Leidenschaften begibt, um in der Konkordanz der gegenseitigen Bedürfnisse
der Bürger ihre Aufgabe zu finden. Hier nun ist er von Jean-Jacques
Rousseaus „volonté générale“
nicht weit – wenn überhaupt - entfernt. Die „volonté
générale“ wird schließlich zur gefährlichsten Blanketterklärung
einer neuen Form autokratischer Herrschaft, die sich im Absolutismus eines
imaginären Volkswillens rechtfertigt. Gegen Rousseaus von der Natur im
wahrsten Sinne geerdetes, wenn nicht beerdigtes Menschenbild produziert
Denis Diderot die wahren Untiefen menschlicher Ambivalenz: „Der Teufel
hole mich, wenn ich im Grund weiß, was ich bin.“ (Rameaus Neffe) Das
klingt weniger nach „Bekenntnissen“ und uniformierbaren Menschen, die
sich dem abstrakten Gesetz der Gesellschaft fügen, als nach einem
sokratischen Zweifel, der die Selbstreflektion wie ein Vorschein der
Postmoderne durchdringt
D´Holbach
ist als mechanistischer Materialist, der keine Transzendenz zulässt, ein
Mitbegründer des neuen Fortschritts- und Wissenschaftsprogramms, das sich
vor allem mit dem Marquis de Condorcet (1743 - 1794) verbindet, der in
seinem „Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des
menschlichen Geistes“ hinsichtlich der technologischen Entwicklung
geradezu visionär ist. Dieses Paradigma entwickelte sich über den
Positivismus a la Auguste Comte, der den Wechsel vom theologischen über
das metaphysische zum vorgeblich unanfechtbaren wissenschaftlichen
Weltbild predigt, bis hin zum gegenwärtigen Glauben an die relative
Allmacht von Wissenschaft und Forschung. Die Befreiungsschläge gegen die
Altlasten der Religion schützten d´Holbach aber zum wenigsten vor dem
Paradox, dass auch im Begriff der Materie transzendente Momente kreisen
– wenn man nur näher hinsieht. Denn im Gegensatz zu d´Holbachs Glauben
ist „Materie“ kein klar verständlicher Begriff, der spirituelle
Gespinste einfach ersetzt, sondern eher der Stoff, der alte Hypotheken
gegen neue eintauscht. Im Grunde geht es um eine neue Metaphorik, festen
Boden zu gewinnen, wenn die tradierten Fundamente wanken – so sollen die
Dinge fest, sinnlich und unkorrumpierbar sein. Der Geist ist dagegen flüchtig
und verläuft sich in den Labyrinthen der Einbildungskraft. Denn wenn
Materie nicht definierbar ist, gibt es auch keinen Begriff von ihr, der
von anderen zu trennen wäre. Dieses despiritualisierte Theoriedesign läuft
über kurz oder lang darauf hinaus, sich von der Philosophie zu
verabschieden, weil im Prinzip nichts mehr zu sagen ist. „Der richtig
denkende Geist nimmt die Gegenstände und die Beziehungen so wahr, wie
sind sind“ der falsche erfasse nur falsche Beziehungen, wie d´Holbach
glaubte. Das folgt einer etwas naiven Korrespondenztheorie der Wahrheit,
die Bewusstseinsphilosophien, die Philosophie des Geistes und
Sprachphilosophien aller Sorten längst gründlich durchlöchert haben.
Gerade dieser Glaube ist nicht weit von einer prästabilierten Harmonie
entfernt, die sich eben nicht länger der göttlichen Ordnung, als
vielmehr dem Glauben an die gute Ordnung der irdischen Welt verschreibt,
was kein geringerer Irrtum sein sollte.
Historische
Sieger und Verlierer?
Folgen
wir David Humes tiefster Erkenntnis zur Unvorhersehbarkeit der Zukunft,
heißt das auch, dass historische Siege und Niederlagen nicht per se
existieren. So lange sie nicht abgeschlossen ist, steht das letzte Urteil
der Geschichte zum Ideenwettbewerb noch aus, so sicher Ideen nicht der
letzte Baustoff der Welt sein dürften. So wird Philipp Bloms Behauptung,
Voltaire und Rousseau hätten das historische Rennen gewonnen haben, weil
ihre Gebeine im Pantheon ruhen und ihr Aufklärungsskript sich
durchgesetzt habe, höchst fragil. Der psychisch schwer gestörte
Jean-Jacques Rousseau war deshalb erheblich wirkungsmächtiger als der
witzige Diderot, weil der „savoyardische Vikar“ die Gesellschaft sehr
viel methodischer und „soziologischer“ behandelt – so wenig dieser
malade Patient die Behandlung danken wird. Zu Voltaire (1694 – 1778)
gilt, dass er berühmt ist, weil er berühmt ist. Dieser Autor steht nur
noch für das Phänomen verdinglichten Ruhms, da ihn jeder kennt, aber
keiner liest, er kaum Neuauflagen erlebt und auch im Theater nur noch spärlich
präsent ist. Sein umtriebig bis intrigant behauptetes Projekt, der größte
Aufklärer aller Zeiten zu sein und zu bleiben, war nur höchst vordergründig
erfolgreich.
Jean-Jacques
Rousseau (1712 – 1778) hat in dieser Zeit und folgenden Zeiten nicht von
ungefähr den Ruhm des großen Philosophen vor den Materialisten und
selbst einem so umtriebigen, witzigen Kopf wie Denis Diderot erschrieben.
Denn die paradoxe Wendung eines „Zurück zur Natur“ in Gesellschaften,
denen dieses Zurück gerade unmöglich ist, erfasst die Widrigkeiten der
condition humaine, die Paradoxie des menschlichen Strebens besser. Vor
allem aber begründet dieser Diskurs einen gewaltigen
Argumentationsspielraum, eine Springquelle der Kritik, einen rasanten
ideologischen Apparat, der dann erst von Karl Marx und Friedrich Engels in
einem noch komplexeren Geschichtsmodell überboten wird. Rousseau war
genauso zerrissen wie die Gesellschaft, darin liegt seine Authentizität,
nicht in den konkreten Bekenntnissen, sondern in deren Gestus. In den
Worten von Friedrich Nietzsche: „Rousseau, dieser erste moderne Mensch,
Idealist und Kanaille in einer Person; der die moralische »Würde« nötig
hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser
Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung.“ Das begründet bis heute
Identifikationschancen für alle zivilisationsgeschädigten Bürger und
deren werden es immer mehr, wenn der Zivilisationsprozess mit seinen
tausenden An- und Zumutungen an chaotischer Fahrt aufnimmt. Philipp Blom
gelingt Rousseaus Darstellung sehr überzeugend, weil er die Psychopathien
dieses Philosophen auf den Punkt bringt, den zahlreiche Hagiografen hinter
Rousseaus Betroffenheitsformeln vergessen machen wollten. Rousseaus Ranküne
gegen das Theater als Gesellschaft, Mensch und Sitten verderbendes
Unternehmen hat viel von dem blindwütigen Verwerfungsgestus, der jedes
neuere Medium reflexartig traf – allerdings schrieb Rousseau, der nie um
Selbstwidersprüche verlegen war, selbst auch für die Höllenerfindung
des Theaters. Und diese und andere Paradoxien stecken im Zentrum seiner
Philosophie, während Blom die Protagonisten der Salons als
disputationsfreudige, aber tendenziell eingeschworene Gesellschaft von
Damen und Herren des Geistes präsentiert. Dabei ist es hier wie dort das
allgemeine Dilemma biografischer Darstellungen, dass Mensch und Werk nicht
notwendig zusammen betrachtet werden müssen, um sich den Reim auf die
Verhältnisse zu machen. So demonstriert Blom in seiner Darstellung des
Aufklärungsgedankens, des Naturbegriffs und der Vorstellungen über die
richtige Herrschaftsform, die längst nicht Demokratie heißen muss, dass
Rousseau und Diderot hier für unterschiedliche Modelle optieren, die ohne
biografische Fixpunkte, Charakteranlagen und Temperamente nicht ganz verständlich
würden. Dass Philosophie also nicht nur die Objektivation eines Gedankens
ist, sondern ein hochindividualisiertes Programm, das ausreichenden
Einlass für die Psychogramme der Autoren bietet, demonstriert
eindringlich die Polyvalenz des Denkens. Doch wenn es so ist, kann der
Herrschaftsanspruch der je eigenen Lehre, der etwa bei Rousseau so übermächtig
ist, nicht als universales Erkenntnisprogramm gelten, sondern als eine Art
Werteschöpfung, deren vorgebliche Allverbindlichkeit dann nur noch in der
Setzung des eigenen Selbst liegt. Fatal für die Philosophie und ihre
Anschlussfähigkeit. Wir lesen dann nur noch Erzählungen, wie es die
Postmoderne ohnehin behauptete, und keine Meistertexte der Weltaneignung,
die so spekulativ wie selbstgewiss dem absoluten Geist folgen.
Irrungen
und Wirrungen der Aufklärung
Dass
die Aufklärung den falschen Weg beschreiten könnte, wäre für ihre frühen
Protagonisten eine „contradictio in adiecto“ gewesen. Denn was wäre
Aufklärung, wenn nicht gerade das allgemeine Wissen um den richtigen, ja
mehr, den einzigen Weg in die bessere Zukunft des Menschengeschlechts. Das
wird dann zum Problem des Chronisten, das auch Philipp Blom einholt, weil
die Brisanz jener Tage sich in späteren Ereignissen überbietet, die
jenen selbstgewissen Ausgang aus der relativen Unmündigkeit nicht
wiederholbar machen. Klar gibt es auch heute noch genug dumme Köpfe und
Hartschädel, denen Aufklärung zum Nutzen der Gesellschaft nicht schaden
dürfte. Aber das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, Mut für den
eigenen Verstand aufzubringen, klingt so voluntaristisch wie
gesellschaftsfern. Es gibt eine Evolution der Dummheit, es gibt Gegenaufklärung
und vor allem gibt es eine riesige Terra incognita, die mit dem Paradigma
der Aufklärung nicht ausgelotet werden kann. Hans
Magnus Enzensberger lässt Denis Diderot über die Schatten
reflektieren, die mit immer mehr Licht auch zunehmen. Weniger metaphorisch
gesprochen geht es also um die berühmt gewordene Dialektik der Aufklärung,
den Umschlag von humaner Gesinnung in faschistisches Denken, was Adorno
und Horkheimer nicht erfunden haben. Sie haben es bei dem Libertin Marquis
de Sade (1740 – 1814) gefunden, der auf den Spuren d´Holbachs wildeste
Traktate gegen die Religion schrieb und seine – wohl nicht nur
literarischen - Orgien vorzugsweise in der Kirche und im Kloster von
geweihtem und entweihtem Personal aufführen ließ. Dabei folgt der
Marquis de Sade, den Guillaume
Apollinaire als den göttlichen apostrophierte, gerade auch diesem
Aufklärungsskript, indem er seine Vernunft zu allen Werten, die so
scheinbar einvernehmlich im Schlepptau der Vernunft segeln, ein unversöhnliches
„Nein“ entgegenschleudert. Neben dem Salon wartet die hemmungslose
„Philosophie im Boudoir“, eine Denkweise, die Denis Diderot vielleicht
gar nicht so weit von de Sade entfernt, als er schrieb: Ich bin lediglich
der Meinung, dass jede Erziehung ihren Hauptzweck verfehlt, wenn sie uns
nicht lehrt, wie man sich gefahrlos und unbedenklich Genüsse aller Art
verschaffen kann."(Rameaus Neffe) Dabei schreckte Diderot allerdings
vor den letzten Konsequenzen eines radikalisierten Moraldiskurses zurück,
was unter anderem seine und die der anderen „philosophes“ brüske
Ablehnung La Mettries demonstrierte: „un auteur sans jugement“. Denn
La Mettrie positionierte sich jenseits der Differenz von Tugend und
Laster, was Aufklärern wie d´Holbach unheimlich wurde, weil sie
prestigestrategisch auf dem Markt der Tugenden ihre Morallehre als
mindestens ebenso tugendhaft wie die christliche präsentieren wollten. La
Mettrie, der vielfach Gescholtene, dabei der konsequenteste und radikalste
Materialist war letztlich weiter, was sich insbesondere in seinem
revolutionären, aber ignorierten „Discours sur le bonheur“
niederschlug, der ihn wohl zum Urvater der Überich-Theorie macht: „Den
ärgsten seiner Feinde trägt der Mensch also in seinem Inneren.“
Im
Gegensatz zu d´Holbach, dessen biedere Momente sowohl im philosophischen
wie persönlichen Umgang mit der Leidenschaft den Eindruck eines
streckenweise behäbigen Denkers begründen, steht bei Diderot immerhin
die „jouissance“ nicht nur in seinem gleichnamigen Enzyklopädie-Beitrag
im Zentrum der Vermittlungsversuche zwischen Körper und Geist: „Es gibt
ein kleines Stück Hoden auf dem Grund unserer sublimsten Gefühle und
unserer spirituellen Zärtlichkeit.“ Friedrich Nietzsche übersetzte das
später im Vorgriff auf Sigmund Freud so: „Grad
und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen
reicht bis in die letzten Gipfel
seines Geistes hinauf.“ De Sade hätte beiden zugestimmt,
wobei ihn die Lust weniger zum Sublimen verführte als zu wütenden Ausfällen
gegen Schöpfung, Gesellschaft und ihre Moral. (Fremde) Tugend ist nichts
anderes als ein paradoxer Lustverstärker. Theodor W. Adorno und Max
Horkheimer interpretierten die „Juliette“ als faschistisches Programm
und verorteten damit im Zentrum einer materialistischen, nur der Natur
verpflichteten Vernunft das Grauen selbst. Was gilt schon, wenn „nichts
wahr und alles erlaubt ist“, wie es Friedrich Nietzsche später den Gläubigen
der Aufklärung in das Stammbuch respektive ihre Enzyklopädie schrieb.
Jede Boshaftigkeit, jede menschliche Katastrophe, der ganze Weltirrsinn
werden in der letzten Radikalität des Denkens nicht mehr erklärungsbedürftig,
was die Theodizee parodistisch vom Kopf auf die Füße stellt. Denn dass
die Aufklärung sich mit dem Guten verbinde, vermag keiner mehr
leichtfertig zu behaupten, nachdem der Materialist de Sade den Glauben an
den humanen Fortschritt in seiner durch und durch widerwärtigen
„Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ verhöhnte.
Die
ewige Rückkehr des Transzendenten
Der
Materialismus, wie in d´Holbach und andere vorstellten, war zunächst
mehr ein Akt der Reinigung als ein Welterklärungsprinzip. Ohnehin waren d´Holbach
wie auch andere Aufklärer intellektuelle und keine sozialen Rebellen
(Alan Charles Kors), da ihre gesellschaftlichen Positionen sowie Geld und
Güter sie nicht von der Elite des ancien régime trennten. Die Aufklärer
wollten frei werden, von allem Ballast der Religionen, von den tausenden
Ängsten und Hoffnungen, frei, die Welt ohne Vorurteil zu erschließen. Für
die Philosophie heißt das, monistisch zu operieren, sich von Hinterwelten
und Hypothesen zu lösen, die sich unendlich verlängern. Nur taucht über
kurz oder lang das Phänomen auf, dass die tabula rasa des Denkens den
Denkern nicht mehr viel zu denken übrig lässt, was Johann Gottlieb
Fichte in seiner Aufklärungskritik dann so fasst, dass hier „nichts als
seiend und bindend gelten“ würde, als das, was nützlich oder (bloß)
verständlich sei. Für den spekulativen oder idealistischen Diskurs der
Philosophie hat der Materialismus fast schon exorzistische Qualitäten,
was aber eben das „Böse“ nur in einen neuen gesellschaftlichen Raum
stellt.
Ist
es nicht zuletzt doch das christliche Erbe, das diese und andere
Philosophen bei aller wütenden Gegenwehr imprägnierte und damit ein
umfassenderes Phänomen der Welterschließung, die immer wieder einen
geistigen Pol, ein transzendentes Gegenüber benötigt, um den Bogen über
die Verhältnisse zu spannen? Philipp Blom glaubt das nicht. Für ihn ist
der Kampf der bösen Philosophen aktuell. Gibt es ein uneingelöstes Erbe
der Aufklärung, das heute noch relevant ist? Oder hat nicht die Aufklärung,
ob nun böse oder gut, längst in der Zentrifuge der Geschichte ihre
erhabene Gestalt und ihren übergreifenden Bedeutungsgehalt so verändert,
dass wir nicht mehr rückhaltlos an ihre Potenz glauben. Wir kennen
inzwischen ihre bedingte Kraft, die Welt in allen Aspekten zu erschließen.
Aufklärung stößt nicht auf ihre Dialektik, auf diesen Umschlag der
humanen Zukunft in die neue Radikalität des Bösen, sondern auch auf den
eklatanten Mangel, Systemkomplexitäten mit den damaligen, mitunter naiv
anmutenden Mitteln erfassen zu können. Für die Dialektik der moralischen
Aufklärung gibt es zwar nach Adorno eine neue moralische Option, doch
deren Fundamente (Minima Moralia) werden in der Vernunftskepsis höchst
angreifbar und kaum je praktikabel. „Eine sich selbst dementierende
Vernunft gerät leicht in Versuchung, sich die Autorität und den Gestus
eines entkernten, anonym gewordenen Sakralen bloß auszuleihen“, warnt Jürgen
Habermas zu Recht vor den Untiefen der Vernunftselbstkritik. Wenn keine
Vernunft, was denn sonst, möchte man assistieren. Das Humane wird seit je
verdächtigt, nur ein säkularisiertes Derivat religiöser Werte zu sein,
weil die ethische Fundierung einschließlich der Versuche einer
kommunikativen Vernunft bestenfalls teilplausibel geblieben sind. Radikale
Aufklärung könnte also unter anderem heißen, die Unterscheidung von
“Gut und Böse“ nicht länger als moralische Notwendigkeit zu
begreifen. Selbst Friedrich Nietzsches wilder Enthusiasmus, die Schöpfer
neuer Werte von ihrer historischen Aufgabe zu überzeugen, erscheint gegenüber
der Aufklärung über die Nichtbegründbarkeit der Moral vorschnell.
Diesen Selbstzerstörungsmechanismus kann bloße Aufklärung nicht entschärfen,
hier sind andere mächtigere Mittel geboten, so sicher diese nie zu einer
sakrosankten Werteordnung oder einer konsensuellen Pflichtethik reichen.
So
wird deutlich, dass Aufklärung, was allerdings Diderot wohl auch klar
war, die Probleme alleine nicht löst. Denn hinter der Aufklärung
beginnen neue Fragen, vielleicht noch schwerer zu lösen, sodass sich das
Spiel immer wiederholt, was den Rätselcharakter der Welt rätselhafter
erscheinen lässt, als es das Programm der Aufklärung in ihrer
geschichtlichen Totalperspektive wahrhaben wollte. Das ist kein Plädoyer
gegen die Aufklärung, als vielmehr ein Grund für die Ernüchterung des
aufklärerischen Glaubens, sich mit Vernunft, aber auch Instinkten über
die Welt zu erheben. Kurzum: Aufklärung ist unabdingbar, aber die Rettung
der Welt, so sie nicht ohnehin eine Leimrute der Philosophie ist, muss
wohl einem anderen, längst nicht bekannten Modell folgen. Und in diesem
Wissen könnte sich der historische Fortschritt ironisch verkehren. Erfand
die Wissenschaft mit Hilfe der Philosophie Muster, die Religion zu retten,
um ihr gerade darin den Garaus zu machen, könnte die nicht zu vollendende
Aufklärung das metaphysische Denken wieder provozieren. Kein Zurück zur
Religion, aber vielleicht zu transzendenten Mustern, die sich der
Sagbarkeit und gar dem Glauben entziehen, aber als Hintergrundannahmen
bleiben. Denn anderenfalls müsste ja die Gesellschaft in eben dem Ausmaß
erträglicher werden, in dem sie sich von Religionen, Aberglauben, und
blinder Autoritätshörigkeit entfernt. Genau das aber wird durch den
Zivilisationsprozess widerlegt, dessen späte Manifestationen auch „la
Grande Terreur“ noch um Längen überboten haben. Die größten
Menschheitsgreuel im 20. Jahrhundert, das hiesige ist noch zu jung,
erfolgten nicht im Zeichen der Religionen. Eine Herrschaftskritik, die
sich wider Faschismus und Stalinismus richtet, bewegt sich in einem
anderen Kampfgebiet als die Aufklärer. So kommt es geradewegs zu
Paradoxien, die den Aufklärern absurd erschienen wären, weil sie zu
wenig soziologisch und machtstrategisch dachten: Solidarność
siegte fast im Zeichen der Religion. Lech Wałęsa wählte
seinerzeit eine einsinnige Metapher, als er mit dem „pope pen“
signierte, zudem nahm er öffentlich die Hostie vom Papst entgegen, ohne
dass wir den Glauben haben, Solidarność wäre gerade kein Werk
der Aufklärung gewesen.
Der
Pyrrhussieg der Aufklärung
Somit
reicht die Freiheitserzählung alleine nicht aus, um die französische
Aufklärung in ihrer Machtdynamik zu begreifen. Reinhart Koselleck
beschrieb in seiner einflussreichen Schrift „Kritik und Krise“ den
zentralen Machtmechanismus dieses neuen radikalen Diskurses als Hypokrisie
der Protagonisten. Sollten an Stelle der demontierten alten Heiligen die
Aufklärer als neue Scheinheilige aufgetreten sein, die hinter schöntönenden
Formeln, rationaler Gewissenhaftigkeit und wohltemperierter Sinnlichkeit
ein Machtbeben auslösen wollten, das bis auf den heutigen Tag nachbebt?
Mit anderen Worten: Die Sprengsätze gegen die alte Gesellschaft verbergen
sich gleichsam in einem objektivistischen Durchleuchtungsdiskurs, der
Folgen vorbereitet, die nicht ausgeblendet werden. Die Spätaufklärung
zielte auf eine gewaltfreie Gesellschaft, ohne darüber nachzudenken, dass
Staat und Gesellschaft auch eine neue politische Kontur erhalten, in der
sich staatliche Gewalt in repressiven wie notwendigen Formen nicht einfach
eskamotieren lässt. In der Forderung geistiger Freiheit, der Freiheit der
Wissenschaft und dem vorgeblichen Ideal der Durchleuchtung alteuropäischer
Strukturen tarnt sich ein Machtimpuls, der schließlich die Herrschaft
demontiert, die Revolution ausruft und zu den teilweise schrecklichen
Ambivalenzen eines neuen Souveräns führt. Zentral für diese
vermeintliche Hypokrisie wird der berühmte, vom Staat heftig beargwöhnte
und verfolgte Meistertext der Aufklärung, die von 1751 bis 1780 edierte
35 Bände umfassende "Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des
Sciences, des Arts et des Métiers". Die Aufklärer begriffen zwar
„ihre Sprachhandlungen als Vorgriff auf sozialen und politischen
Wandel“ (Reinhart Koselleck), was Diderot nach seiner Aussage während
der Arbeit an diesem Großwerk der Welterschließung bewusst wurde. Doch
ahnten sie nicht oder nur unvollkommen, dass die Revolution dem
wissenschaftlich zubereiteten Machtvakuum in einer Weise folgen könnte,
die den Terror forciert.
Hier
liegt der Stachel des ganzen Projekts. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
erkennt etwa in Diderots philosophisch zentralem Werk „Rameaus Neffe“
die Welt der Bildung als Voraussetzung des sich selbst entfremdenden
Geistes, was wiederum so übersetzt werden könnte, dass mit dem freien
Einzug der Ideen in das Denken der Denker sich selbst vergesellschaftet.
Fataler für das Projekt wird dabei die Erkenntnis Hegels, dass die
Entmachtung der Religion in der zersetzenden Reflexion der Aufklärer zu
einer „Spaltung von Glauben und Wissen“ (Jürgen Habermas) führt, die
von der Aufklärung und ihren Instrumenten nicht überwunden werden kann.
Für Hegel ist die Vergötzung der Vernunft ein Irrtum der Aufklärung,
die den endlichen Verstand als absolut setzt, was zwingend scheitern muss.
Nun folgten die Aufklärer zwar keineswegs einem simplen Vernunftfetisch,
was die prominente Rolle der Sinne, der Empfindungen und Instinkte im
Aufklärungskosmos demonstriert. La Mettrie hatte kein Problem damit, das
Denken als Empfindungsvermögen zu begreifen und die vernunftbegabte,
nicht vom Körper geschiedene Seele mit der empfindenden gleichzusetzen.
Doch das Verständnis für die irrationalen Potenzen der Gesellschaft,
wenn nur erst die tradierten Herrschaftsformen und ihre ideologischen
Fortifikationen abgebaut wären, war nicht so ausgebildet wie die Frage
nach einer aufgeklärten Alltagsmoral.
Das
Signum der folgenden Revolution, zugleich der Grund ihres nicht
wiederholbaren Erfolgs wie Misserfolgs, war dieses noch höchst
ungemischte Ineinander verschiedener Systeme, die sich wechselseitig
bedingten, ergänzten, inspirierten und politisch explodierten. Es war
nicht nur die kritische Lage der Nation, der Hunger und alle übrigen
schlechten Lebensbedingungen des dritten Standes, sondern das
multiorchestrierte, argumentativ aufgerüstete Skript der Revolution, das
Männer wie Maximilien de Robespierre, St. Just und andere motivierte, übermotivierte
und zu Schlächtern ihrer Brüder werden ließ. Es war auch die
Naturwissenschaft und ihre Fortschrittsideologie, die der Religion
systematisch Stück für Stück das Terrain entriss, bis es schließlich
nur noch eine Frage der Zeit war, dass die Entzauberung und Entzweiung sämtlicher
Lebensbereiche vollzogen wäre. D´Holbach redet nicht von der pastoralen
Unschuldigkeitsnatur Rousseaus, wenn er konstatiert, dass die immer
bessere Kenntnis der Natur die Götter zerstört. Wie Blom und andere
richtig feststellen, rückt die Natur nun auf den Platz der Religion: Ein
Glaube ersetzt den Glauben, ohne die einheitsstiftende Leistung der
Religion noch länger erbringen zu können. Nur vordergründig sind der
neue Glaube, die Vernunft- und Zivilreligion menschenfreundlicher als das
vormalige System, soweit die Wissenschaft selbst zwar gesellschaftliche
Ein- und Ausschlüsse mit dogmatischem Eifer praktiziert, doch regelmäßig
aus eigenem Ansporn heraus keine Häretiker verbrennt. Dabei liegt der
blinde Fleck nicht nur in der Ausblendung der Machtfolgen. Nach Theodor W.
Adorno und Max Horkheimer besteht seit je diese verstörende
Komplizenschaft von Mythos und Aufklärung, was sowohl den Mythos als
Aufklärung erscheinen lässt wie umgekehrt. In der Aufklärung kommt es
zur Diktatur über die Dinge, zum Herrschaftstotalitarismus, in dem die
Dinge nur noch als machbare erscheinen. Dieser letzte Akt der Aufklärung
über die eigene Hilflosigkeit im Angesicht des Grauens ist erstaunlich,
aber rekonstruierbar. Zuvor hatte die schreibende Zunft zwischen
Philosophen und Literaten dieses Thema ihrer eigenen Wirkungsmacht nie
mehr losgelassen, weil sich hier erst der Traum Platos erfüllte, dass die
Helden des Geistes Macht, reale Macht haben. Der Philosoph tritt nicht nur
als Statthalter des Geistes auf, sondern als Führer, Anreger,
sinnenfroher Animateur der Vernunft, der Gesellschaften so zu formen
hilft, dass autokratische Herrschaft an aufgeklärten Massen scheitert.
Schön wär´s gewesen.
Das
verlorene Erbe der Aufklärung
Ist
das Erbe der Aufklärung vergessen, wie es Philipp Blom behauptet? Was
denn wäre zu erinnern? Nun ist doch gerade die Aufklärung ein höchst
prominenter Anspruch aller späteren westlichen Gesellschaften geblieben.
Fast ist es eine Identifikation des demokratischen Erfolgs mit der
hinreichenden Aufklärung des Wählers, was zwar eine politische Chimäre
bleibt, aber eben das Selbstverständnis der immer weiter aufzuklärenden
Demokratie belegt. Der Begriff der „Aufklärung“ wanderte mit
unterschiedlichen Besetzungen in die Alltagssprache. Dabei haben sich die
Werte verschoben, der Kampf gegen die „infame“ Kirche hat schon
deshalb seine Schneidigkeit verloren, weil die Schäflein in immer größerer
Zahl von dannen ziehen und die klerikale Autorität in praktischen und
gesellschaftlichen Fragen schwach ist. Der Feind ist diffuser geworden, er
rutschte in Funktionen, die nicht mehr von Weihrauch und Hostien markiert
werden. Für Philipp Blom ist es der radikale Humanismus, der zum
vergessenen Erbe der Aufklärung wird, doch auch gerade die Entfaltung
dessen, was der Mensch sein kann und beanspruchen darf, ist zu einem mächtigen
Selbstentfaltungsdiskurs geworden, der sich in zahlreichen Disziplinen im
Verbund mit einer besseren wissenschaftlicheren Durchdringung der
condition humaine demonstriert. Insoweit haben die Aufklärer zu Recht auf
Wissenschaften vertraut, die den Menschen nachhaltiger durchleuchten, um
diese bislang komplizierteste Maschine auf Erden besser zu verstehen. Nur
folgen dem keine Moralreflexionen, die den kategorialen Gelüsten von
Philosophen oder gar unhintergehbaren Pflichtethiken, wie sie Immanuel
Kant verbindlich machen wollte, genügen. Genau das hat die Spätaufklärung
nicht erkannt: „Die aufgeklärte Moral führt in ihrem theoretischen
Diskurs zu einer rigorosen Gesinnungskontrolle, die die Unterwerfung im
Namen der Freiwilligkeit fordert, weil die Wahrheit der Vernunft und der
Natur unbestreitbar nur eine sein kann: so uniform, wie der Staat der über
sich selbst aufgeklärten Bürger sein soll.“ (Reinhart Koselleck)
Deswegen sollte Blom vielleicht das vergessene Erbe erst gar nicht
einfordern, wenn doch im Salon bereits die Guillotine auf den Ernstfall
hin vorbereitet sein könnte, was nicht durch farbige und charmante
Intellektuelle wie Diderot kaschiert werden mag. Denn der Salon war als
Refugium einer besseren Welt zugleich ein privatistischer Nichtort, in dem
eben alle freiheitlichen und egalitären Prinzipien moralisch unanfechtbar
formuliert werden konnten, ohne die Praxis des Politischen einzuberechnen.
Und just an dieser Stelle werden dann später moralische Rigoristen wie
Robespierre, wie es Philipp Blom beschreibt, zu diktatorischen Repräsentanten
des „Generalwillens“. Zwar erfolgt diese Selbsteinsetzung im Namen des
„göttlichen“ Rousseaus, während die damnatio memoriae die „philosophes“
trifft, explizit Helvetius, dessen Marmorschädel von den Jakobinern zerstört
wird. Doch auch die „Salonisten“ jenseits von Rousseau schufen die
Voraussetzungen, die Gesellschaft zu demontieren, ohne einzuräumen, dass
ihre Kritik politisch ist und die saubere Scheidung zwischen
unanfechtbarer Moral und korrumpierbarer Politik nur in der
privatistischen Moral (reentry) funktioniert. Ob man das nun als „Hypokrisie“
bezeichnet wie Koselleck oder als Reflexionsdefizit gegenüber den
Belangen des „zoon politicon“ berührt weniger als das in der späteren
Moderne permanent auftretende Wissen, dass Aufklärung und konsistente
Moral allein, nebst plakativen Politikentwürfen um Freiheit und
Gleichheit herum, wenig genug vermögen. Die Erkenntnis "Kein Mensch
hat von der Natur das Recht erhalten, andere Menschen zu befehligen"
stammt nicht von Rousseau, sondern von Diderot und mag exemplarisch dafür
stehen, dass solche Natur- und Unschuldsfantasien das Apriori eines
letztlich unpolitischen Politikbegriffs bilden. Anders kann man auch d´Holbachs
reduktionistischen Programmsatz gar nicht lesen: „Die Unwissenheit und
die Trägheit der Menschen sind die alleinigen Stützen der absoluten
Macht und der falschen Politik.“ Edmund Burke (1729 – 1797),
Zeitgenosse der Aufklärer und konservativer Revolutionskritiker, brachte
diesen Grundwiderspruch auf einen Punkt, den die Aufklärer nicht
wahrhaben wollten: „Wenn Untertanen Rebellen aus Grundsätzen sein
wollen, so werden Könige aus Staatsklugheit Tyrannen sein.“ Denis
Diderot hatte in den „Pages contre un tyran“ das
Staatsklugheitsargument Friedrich II. vehement zurückgewiesen. Die
politische Wahrheitsfrage dürfe nicht von strategischen Geheimpolitiken
entschieden werden, was eine offene Differenz zwischen Menschenbildern und
Wahrheitsbegriffen anzeigt, die noch den Konflikt von George W. Bush und
einer immer kritischer werdenden Öffentlichkeit im Irak-Krieg erfüllte.
Zwischen bedingungsloser Aufklärerwahrheit und dem Vorbehalt des
Herrschers gegenüber Menschen, die immer dem Irrtum folgen, können wir
heute nicht mehr ernsthaft optieren, weil die Differenz einer kategorialen
Verwechslung politischer Entscheidungsebenen unterliegt. Hier geht es also
nicht um ein (einlösbares) Erbe, sondern – wie auch sonst – um
besseres oder eben gar kein Theoriedesign.
Das
antitheologische Programm, die Bekämpfung von Glauben und Aberglauben,
ist auch nicht vergessen, wenn wir uns die radikale und durchaus
einflussreiche Religionskritik von Richard Dawkins oder Michel Onfray
vergegenwärtigen. Die materialistische Erkenntnis, die Friedrich
Nietzsche später auf den Punkt brachte: „Gott ist tot“ ist ein
altphilosophischer Ladenhüter mit diversen, um Evolutionstheorie und
Psychologie aufgebesserten Nähten.
Fazit:
Was Aufklärung heute heißen könnte, ist jenseits ihrer historischen
Verschuldung also längst nicht mehr klar. Damals glaubte man noch an die
Zuverlässigkeit der Geschichte, die absolute Solidität der Instrumente
und darauf, letzte Worte zu letzten Dingen zu sprechen. Dabei hatte Denis
Diderot schon längst erkannt: „Meine Gedanken sind meine Dirnen“ –
was im Kern das gesamte Entfremdungs- und Unverbindlichkeitsprogramm der
Moderne vorwegnimmt. Philipp Bloms Studie vermittelt uns im besten
Weischedelschen Sinne eine vorzügliche Hintertreppe in den
philosophischen Salon und von da aus in das Denken der „philosophes“.
Ideengeschichtlich bringt das Werk nichts berührend Neues, was seinen
Anspruch indes nicht schmälert. Die Geschichte dieser Salonaufklärung
ist nicht nur als Geschichte der einflussreichen Supertexte von
Meisterdenkern, als pure Ideengeschichte zu erzählen, weil die sozialen
Konfrontationen, die gesellschaftliche Vermittlung brisanter Ideen in der
jeweiligen Lebenspraxis der Protagonisten zu kurz käme. Die Salonatmosphären
sind nicht mehr reanimierbar, ihre frühen Herrlichkeiten als Nucleus der
Zukunft passen nicht mehr zu einer fundamental geänderten Gesellschafts-
und Medienstruktur, die das Übermaß der Information zum tückischsten
Hindernis wirklicher Aufklärung macht. Der Aufklärer intellektuelles
Andenken gegen eine repressive Gesellschaft mag in Splittern gegenwärtige
philosophische Diskurse bereichern. Geistige Zentralen, die mit der
Gedankenkraft jener Tage die Bodenplatten einer völlig veränderten
Gesellschaft erneut in Schwingung bringen, sind nicht zu erwarten. Heute
folgt der ernüchterte Aufklärungsdiskurs einer Auflösung vormals
sauberer geschiedener Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit, öffentlicher
Meinung und staatlicher Machtausübung. Diese Aufklärungsgeschichte ist
noch nicht geschrieben…
Goedart
Palm
Literatur
Philipp
Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der
Aufklärung, ISBN 978-3-446-23648-6, Hanser Verlag
Denis
Diderot: Briefe an Sophie Volland, Leipzig 1986.
Hans
Magnus Enzensberger: Diderots Schatten. Unterhaltungen, Szenen, Essays. Übersetzt,
bearbeitet und erfunden von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1994.
Jürgen
Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen (suhrkamp
taschenbuch wissenschaft), Frankfurt/M. 1988.
Alan
Charles Kors, D'Holbach's
Coterie: An Enlightenment in Paris, Princeton University Press, 1976.
Reinhart
Koselleck, Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen
bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1973.
Internet
Max
Pearson Cushing, Baron
D`Holbach, A Study of Eighteenth Century Radicalism in
France
, unter: http://www.gutenberg.org/files/5621/5621-h/5621-h.htm
Einige
interessante Texte von d´Holbach, unter http://www.liberliber.de/
http://www.correspondance-voltaire.de/
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